Le malade imaginaire

Von Aurelie Depouilly

Am Stifttheater wurde dieses Jahr „Le malade imaginaire“ von der Theatertruppe gespielt. Jede Vorstellung wurde von langen und wohl verdienten Ovationen des Publikums gekrönt. Die Zuschauer waren beeindruckt, wieviel Text jeder Schauspieler und jede Schauspielerin auswendig gelernt hatte und wie authentisch sie ihn uns präsentiert haben. Dank einer fabelhaften Interpretation der Rollen haben wir uns über zwei Stunden lang prächtig amüsiert. Aber liebes Publikum…worüber genau haben wir da gelacht?

„Der eingebildete Kranke“ ist eines der bekanntesten Werke von Molière, der im Auftrag des Königs diese Ballett-Komödie zu Beginn des Jahres 1673 schrieb. Obschon das Stück über 300 Jahren alt ist, hat es noch heute einen Bezug zur Realität.

Die Hauptfigur des Stückes ist der vielgeplagte, von fixen Ideen besessene Ehemann und Vater Argan. Er ist ein Hypochonder und lebt im Wahn. Er wirkt komisch und manchmal naiv. Er kann auch grausam und egoistisch sein, vor allem, wenn er spürt, dass ihm sein Wahn geraubt werden könnte. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht Medikamente verabreicht oder ein Klistier bekommt.

Sein Bruder Beralde versucht ihn zur Vernunft zu bringen. Während Argan die Ärzte vergöttert, sehen wir Beralde als einen Gegner der Schulmedizin. Er tut die Ärzte als geldgierige und unnütze Zeitgenossen ab.

Beline, Argans zweite Frau, deren Name „Lamm“ bedeutet, spielt die Rolle des bösen Weibes. Sie ist  ihrem Mann gegenüber übertrieben freundlich und zärtlich, möchte aber nur  an sein Geld kommen. Argan dagegen liebt sie. Beline ist aber nicht zu beneiden: Schließlich muss sie ihr  Leben neben einem ewig übertrieben leidenden und unappetitlichen Ehemann verbringen.

Toinette, das Dienstmädchen ist eine brillante Figur. Sie ist lebenstüchtig, schlau, treu und gutmütig, und gleichzeitig unverschämt frech. Sie hilft sehr Angélique, Argans Tochter, welche scheu, verschämt, überzeugend natürlich ist. Sie ist unsterblich verliebt in Cléante. Luison ist Argans zweite Tochter und somit Angeliques kleine Schwester.

Angélique soll dem Willen ihres Vaters gemäss Diafoirus heiraten, welcher der Sohn seines Arztes namens Purgon ist. Diafoirus ist ein Narr und Streber. An der Seite von Purgon steht der Apotheker Fleurant. Beide bereichern sich an dem hypochondrischen Patienten. Da dieser  sich einbildet, unheilbar krank zu sein, merkt er nicht wie ihn sein Arzt ausnützt. Auch von dem Notar Bonnefoi (wörtlich übersetzt: guter Glaube) ist nichts Gutes zu erwarten: Bewusst betrügt er Argan. Zuguterletzt erlaubt Argan seiner Tochter Cléante doch zu heiraten.

Ende gut, alles gut!?

Hatte uns die hervorragende Theatertruppe der Stiftschule, geleitet von Oscar Bingisser, eine nette über 300 Jahre alt Komödie vorgespielt, damit wir uns kontextlos über einen alten Mann und seine Beziehung zu seiner Familie und seinem Körper amüsieren dürfen?

Liebes Publikum, Sie dürfen sich nicht so schnell täuschen lassen. Wenn Molière noch heute gelesen und gespielt wird, heisst es einfach, dass er uns eine Lektion für die Ewigkeit hinterlassen wollte… und dies ist es ihm gelungen.

Denn es ist so: In jedem von uns steckt „un malade imaginaire“!

Argans grösste Angst ist die Angst, die in jedem von uns steckt und zwar die Angst vor dem Tod. Mit allen Mitteln versucht Argan, gesund zu bleiben bzw. zu werden. Davon ist er besessen. Somit nimmt er die damaligen Arzneimittel ein und lässt sich von einem scheinbar wissenslosen Arztquartett beraten. Die Pflege kommt uns rudimentär und fast lächerlich vor.

Aber wie wird die Medizin der Zukunft unsere heutige Medizin betrachten? Neben der heutigen Medizin verbreiten sich alle Formen von Alternativmedizin. Legen wir wert auf ein tiefes Wissen oder lassen wir uns auch von Scharlatanen blenden, die wie Beralde es meint, ein wenig Latein können?

Und wie viele Menschen sind heute von ihren Krankheiten bzw. ihrer Gesundheit besessen?

Heute vermehren sich Schönheitskliniken, Mittel um schlank, gross, klug, konzentriert, leistungsfähig, schnell, effizient, jung, fröhlich, dynamisch zu werden. Kurz: Sind wir nicht perfekt, sind wir schwach! Bilden wir uns nicht ein, wir wären krank, wenn wir nicht perfekt wären? Wie Argan ist unsere Gesellschaft von der Perfektion des Körpers besessen!

Zentral im Stück ist der Vertrauensbruch der Medizin, deren Opfer Argan ist. Heute wird es Ärztelobby genannt. In unseren reichen Ländern blüht die Pharmaindustrie auf. Ihre Umsätze brechen Rekorde. Werden wir immer kranker in unserer wohlhabenden Gesellschaft? Oder wird es uns nur so verkauft, damit wir immer mehr Pharmamittel brauchen?

Und noch etwas: Während des ganzen Stückes steht Argan mitten auf der Bühne. Durch seine Einbildung zieht er Aufmerksamkeit auf sich. Argan ist schlussendlich ein einsamer Mensch: Die Basis seiner Ehe ist brüchig, er wird von seinen Mitmenschen nicht anerkannt, sondern ausgenutzt und angelogen, und sieht die wahre Liebe seiner Tochter nicht. Als Wohlhabender versucht er sich sein Glück zu kaufen.

In den letzten 20 Jahren haben sich die Listen und Arten von Therapeuten, Coaches, Beratern vermehrt. Alle versprechen ihren Patienten oder besser gesagt Kunden, dabei zu helfen, aus der Einsamkeit rauszukommen und ihr Glück zu finden…damit jeder sich gut fühlt. Ist beim Verhalten dieser Menschen nicht eine Ähnlichkeit mit dem Stück von Molière zu erkennen?

Vor 300 Jahren wollte Argan für die Ewigkeit leben. Heute würde er es vielleicht in einem Labor in den USA finden…

Allerdings, Monsieur Molière…Sie und Argan sind immer noch lebhaft für uns als Publikum und bringen in unseren jungen Schauspielern der Stiftsschule ehrgeizige kulturelle Inspiration hervor.

Merci Monsieur Molière.

http://stiftsschule-einsiedeln.ch/media/kultur_sport/pdf/LeMaladeImaginaire.pdf

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