“Die Integration der Mädchen vollzog sich sehr organisch und selbstverständlich”

50 Jahre Mädchen an der Stiftsschule

Hätte P. Thomas Fässler nicht darauf aufmerksam gemacht, wäre in diesem Schuljahr ein Jubiläum fast vergessen worden: Seit genau 50 Jahren wird an der Stiftsschule koedukativ unterrichtet. Im Schuljahr 1970/71 kamen die ersten sieben Mädchen in die ersten Klassen und eine erstaunlich unscheinbare, aber doch für inzwischen hunderte Jugendliche prägende Zeit des gemeinsamen Unterrichts nahm ihren Anfang.

Holt man Erkundigungen bei gegenwärtigen Lehrpersonen oder Schülerinnen und Schülern ein, seit wann es denn wohl Mädchen an der Stiftsschule gebe, sieht man zunächst erstaunte Blicke. «War das denn nicht schon immer so?» oder «Das habe ich mir noch gar nie überlegt». So selbstverständlich ist für die heutige Generation das gemeinsame Leben und Lernen von Jugendlichen. Die 5c-Klasse versichert mir aber auch gleich mit Nachdruck, wie wichtig die Mädchen seien: «Es macht mehr Spass», «Wir helfen einander beim Whatsappen mit dem anderen Geschlecht». «Wir haben wirklich echt gute Mädchen hier», so die selbstbewussten Schülervoten der 5.Klässler.

Von der Stiftsschülerin zur Mathematiklehrerin an der Stiftsschule

Unter den Lehrpersonen erinnert sich die Mathematiklehrerin, Bernadette Boggia-Portmann, an die Anfangsjahre zurück. Sie war selbst Stiftsschülerin im 10. Jahrgang des koedukativen Unterrichts. Ob das eine bewusste Entscheidung gewesen sei? «Nicht wirklich». Pfäffikon wäre für die aus Wilen stammende Gymnasiastin die Alternative gewesen, aber sie probierte es lieber in Einsiedeln. Eine Klasse bestand in ihrer Zeit aus elf internen Knaben, elf externen Knaben und elf externen Mädchen. Bis auf den Sportunterricht wurde die Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet. Ein gemeinsames Essen mit den Klassenkameraden war aber noch nicht möglich. Die Mädchen assen in der sogenannten «Bar», einem eigentlich fürs Internat vorgesehenen Raum, der in der Mittagspause für die Mädchen geöffnet wurde. Bruder Suso brachte das Essen persönlich mit einem Wägelchen vorbei. Ob Jungen oder Mädchen, für Bernadette Boggia, ist das bis heute nicht die zentrale Frage, «ich war noch nie der Typ dafür». Eindrücklich sei für sie an der Stiftsschule gewesen, dass so viele Patres unterrichtet haben, die so umfassend gebildet waren: «Die haben Sachen gewusst!», zeigt sich die Mathematiklehrerin, die heute auch die Lehrerkonferenz leitet,  begeistert.

Die ersten Lehrerinnen

Mit den Mädchen kamen auch die Lehrerinnen. Der Jahresbericht 1970/71 nennt «Frl. Marianne Grendelmeier» als erste Lehrerin an der Stiftsschule. Sie übernahm den Violinunterricht, 1972/73 folgte mit Frau Ellen Dunn die erste Lehrerin für Englisch, 1975/76 Margit Wehrli als Deutsch- und Englischlehrerin. Von der weggezogenen Frau Eicher übernahm diese auch die Mitarbeit im Externat. In dieser Funktion bezog sie ein eigenes Büro in den Räumlichkeiten, in denen heute die Schulseelsorge eingerichtet ist. Für P. Markus, der von 1978-2016 als Lehrer und von 2002-2013als Schulleiter der Stiftsschule vorstand, war die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen durchwegs positiv. In seinem Fach, der Mathematik, weiss er auf Nachfrage auch besonders die fachlichen Qualitäten der Kolleginnen zu loben: «Wir haben immer sehr gute Mathematikerinnen gehabt.»

Die älteren Mönche wissen bescheid

Unter den Mönchen werde ich schliesslich fündig: Sie haben selbst die allerersten Jahrgänge der gemischten Klassen unterrichtet und erinnern sich noch gut an die Gründe und die Umstände dieses Entscheids. P. Alois war etwa in den Jahren 1973 bis 1978 und von 1985 bis 2009 als Lehrer an der Stiftsschule tätig. Als er 1973 begann, waren bereits in den 1.-3. Klasse einige wenige Mädchen. Er verbindet durchwegs positive Erinnerungen mit dieser Zeit.

36 Jahre Unterrichtserfahrung hat auch P. Lorenz. Ab 1973 unterrichtete er anfangs Religion, dann vor allem Mathematik im Untergymnasium und Philosophie. Auch er schlägt in dieselbe Kerbe: «Grosse Probleme gab es eigentlich nicht.» Die Herausforderungen seien vor allem organisatorischer Art gewesen: Es musste ein Mädchen-WC eingerichtet werden und ein eigener Turnunterricht organisiert werden, aus praktischen Gründen ausserhalb des «normalen» Schulbetriebs, also am Abend nach der letzten offiziellen Schulstunde oder über Mittag. Ab 1976/77 erkannte man auch die Notwendigkeit einer ersten weiblichen Bezugsperson in der Person einer pädagogischen Mitarbeiterin im Externat, parallel zum Externenpräfekten, dem weiterhin die Gesamtleitung des Externates oblag. Ob die Anfänge schwierig gewesen wären? «Die Integration der Mädchen vollzog sich sehr organisch und selbstverständlich.», so P. Lorenz. Und auch aus heutiger Sicht bestätigt er: «Die Neuordnung hat sich durchaus bewährt. Die reine Knabenschule ist «normaler und entspannter» geworden.

P. Markus erinnert sich daran, dass die Änderungen vor allem «atmosphärisch» gewesen seien. «Eine Männergesellschaft ist immer ein bisschen rauher.» Die Öffnung «hat uns also gut getan.» Einzig bei Liebschaften sei man früher viel strenger gewesen: «Liebschaften waren verpöhnt.», verhindern konnte man sie aber auch nicht, so P. Markus verständnisvoll.

Neubesetzungen im Theater

Während P. Albert Kuhn noch in einem Artikel aus dem Jahr 1932 seiner Sorge Ausdruck verlieh, dass hoffentlich nie der Bann gebrochen sei, die «ungezügelte Aufnahme der Frauenrollen auf unserem Theater» zuzulassen, so standen doch 1973 erstmals Stiftsschülerinnen in Kopals «Der geschundene Raubritter» auf der Bühne mit. Im Jahresbericht hiess es dazu: «Zum ersten Mal wirkten Mädchen in Sprech- und zum Teil in Gesangsrollen mit und trugen redlich zum erfreulichen Gesamterfolg bei.»  Für die langjährige Theatertradition der Stiftsschule, die wohl in den 60er Jahren auch einen gewissen Mitgliederschwund zu verzeichnen hatte, waren die Mädchen also auch eine Chance. 1976/77 bestand die Theatergruppe bereits zur Hälfte aus Mädchen, so in einem Bericht von P. Anton nachzulesen.  P. Adelbert sah aber auch eine neue Herausforderung auf ihn zukommen: «Der starke Anteil der Mädchen gestaltet die Stückwahl immer schwieriger. Während wir früher Männerdramen suchten und Frauenrollen erst gegen erheblichen, zähen Widerstand durchsetzen konnten, halten wir jetzt Ausschau nach Stücken mit reichem weiblichen Personal.»

Nachwuchs für den Stiftschor?

So manche Hoffnung verband sich auch mit Nachwuchs für den Stiftschors. P. Lukas habe etwa die Hoffnung gehabt, dass der Nachwuchsmangel an ungebrochenen Knabenstimmten aus den untersten Klassen durch Frauenstimmen der Stiftsschülerinnen aufgefangen werden konnten. Diese wollten auch singen, aber nicht im Stiftschor, für den man sonntags früh aufstehen musste. So entstand aber immerhin der «Plausch-Chor», heute Cum-Anima-Chor, einem für Schülerinnen und Schülern offener Schulchor mit mehreren Auftritten pro Jahr, der auch heute noch besteht.

Auch der Chor hat sich bedingt durch den Eintritt der Mädchen an der Stiftschule verändert und steht nun unter der musikalischen Leitung von Marie Müller. Der Überzahl an singfreudigen jungen Damen folgend, verzeichnet der Chor aktuell eine deutliche Mehrzahl an Mädchen- und Frauenstimmen und wird im Herbst Auszüge nach Engelbert Humperdincks «Hänsel und Gretel» aufführen.

In der Feldmusik engagierten sich die Stiftsschülerinnen auch seit jeher. Eine Abbildung zeigt etwa die gemischte Feldmusik unter der Leitung von P. Roman Bannwart 1977 bei einer Papstaudienz.

Die Feldmusik aus Stiftschülerinnen und Stiftsschülern mit P. Roman Bannwart bei einer Papstaudienz in Rom 1977.

«Die Professoren und die Mitschüler sind sehr liebenswürdig.»

So bescheiden die Ausführungen der Mönche und Lehrpersonen heute klingen, so euphorisch erlebten es doch die sieben ersten Mädchen selbst. «Dieses grosse Ereignis wird sicher im Tagesbuch des Klosters aufgeschrieben», liest man in einem Artikel von Käthy Kälin und Margrit Bölsterli im Meinradsraben, der Vorgängerzeitschrift des SALVE. Sie beschreiben darin ihren ersten Schultag an der Stiftsschule, an dem sie zunächst den Gottesdienst besuchten und dann angesichts der grossen Zahl an Knaben «etwas schüchtern in den Bänken» sassen. Die schönste Zeit erlebten sie in den Pausen, in denen sie mit den Mitschülern am «Fussballkasten» im Reksaal spielten. Und auch mit den Lehrpersonen zeigten sich jungen Gymnasiastinnen sehr zufrieden: «Alles ist so vielgestaltig und neu, dass die Schulstunden nur so dahinfliegen.», vor allem aber seien die «Professoren und die Mitschüler sehr liebenswürdig.»

Wie kam es zu diesem Entscheid?

Doch wie kam es nun zu diesem doch richtungsweisenden Entscheid für den koedukativen Unterricht? Immerhin war 1971 auch schweizweit ein geschichtsträchtiges Jahr: Das Frauenstimmrecht wurde nach grossen gesellschaftlichen Kontroversen eingeführt – das Landesmuseum widmet diesem Jubiläum derzeit eine eigene Sonderausstellung. Auch das 2. Vatikanische Konzil lag erst fünf Jahre zurück. Wehte im Einsiedeln von 1971 also ein besonderer emanzipatorischer Geist, glühte ein nachvatikanisches Feuer?  Diese Frage ist eher zu verneinen. Vielmehr war es ein Zusammenspiel mehrere Faktoren, wobei die politischen letztlich den Ausschlag gaben: Als der Kanton das Mittelschulwesen in die Hand nahm – vorher waren alle Gymnasien privat – und eine entsprechende Gesetzgebung die Folge war, gab es gar keine Alternative. Zwischen der neuen Mittelschule in Pfäffikon und den beiden privaten Schulen Einsiedeln und Nuolen wurde eine Arbeitsteilung festgelegt. Einsiedeln und Nuolen boten die Maturatypen A und B an, Pfäffikon Typus C. Damit das funktionierte, mussten wir die Schule für Mädchen öffnen und das Griechischobligatorium abschaffen.

P. Markus weist aber ergänzend auf die offene Haltung des Klosters in dieser Zeit hin: «Das Vatikanum hat eine gute Aufnahme im Koster gefunden und einen neuen Schwung gebracht. Unser Kloster war immer ein offener Ort.» Auch der Jahresbericht 1968/69 belegt diese Aufgeschlossenheit: «Im Bestreben, zeitaufgeschlossen zu wirken, tragen sich alle Schweizer Klöster mit dem Gedanken, ihre Schulen auch Mädchen zu öffnen». In der Lehrerkonferenz am 29. April 1969 wurde von der Lehrerkonferenz – diese war damals das zentrale Entscheidungsgremium -einstimmig (ausgenommen zwei Enthaltungen) der Entschluss angenommen «Mädchen aus dem äusseren Kantonsteil als externe Schülerinnen aufzunehmen.»  Im Jahresbericht 1970 wurde als Begründung auch auf die Konzilsdokumente über christliche Erziehung hingewiesen, ebenso wie auf die Erklärung der Menschenrechte durch die UNO und den faktischen Mangel des Zugangs zu höheren Lehranstalten für Mädchen im äusseren Kantonsteil.

Kommen die Knaben zu kurz?

Hat sich der gemeinsame Unterricht also bewährt? Ist der gemeinsame Unterricht auch heute das bestmögliche pädagogische Modell oder kommen heute gar die Knaben zu kurz? «Man kann es sich gar nicht mehr anders vorstellen» resümiert P. Markus. Auch wenn manche Bereiche, wie das Singen oder manche Berufsfelder wie die Pflegeberufe, heute aus seiner Sicht zu sehr in Frauenhand seien und Männer ein entsprechendes Selbstbewusstsein brauchen, um sich diesen Tätigkeiten zu widmen, gebe es heute gar keine Alternative zum gemeinsamen Unterricht. Die Schule soll die gesellschaftliche Realität wiederspiegeln, argumentiert ein Schüler aus der 6.Klasse und die sei nun einmal gemischt: «Wenn Kinder und Jugendliche während ihrer Schulzeit mit dem jeweiligen anderen Geschlecht zusammen in die schule gehen, dann lerne sie das andere Geschlecht als ebenbürtig anzusehen». Auch P. Alois findet, dass sich der gemeinsame Unterricht bewährt: «Der gemeinsame Unterricht ist meiner Meinung nach das einzig Richtige. Gründe für eine Geschlechtertrennung, die heute gelegentlich angeführt werden, finde ich vom biologischen, soziologischen und pädagogischen Standpunkt her nicht zu verantworten.»

Heute besuchen 351 Schülerinnen und Schüler die Stiftsschule, davon 197 Mädchen. In der Lehrerschaft liegt das Verhältnis bei 23 Frauen zu 29 Männern. Selbst in den einzelnen Fachschaften wird auf Geschlechterdurchmischung geachtet. So sollen etwa in den Sprachfächern nach Möglichkeit männliche und weibliche Lehrkräfte ihr Fach vertreten. Aufschrei im Kollegium gab es etwa, als vor fünf Jahren eine Stelle explizit für einen Englischlehrer männlichen Geschlechts ausgeschrieben wurde. Der Kollege ist letztlich freilich mit offenen Armen empfangen worden. P. Lorenz Hinweis, dass «die Erfahrungen zeigen, dass Knaben wahrscheinlich besser befördert werden könnten, wenn sie unter sich sind» führt dann auch nicht zu einem Appell zur Knabenschule zurückzukehren, sondern im gegebenen Rahmen pädagogisch entsprechend zu reagieren: «Da gibt es wohl noch andere Mittel, um Abhilfe zu schaffen.»

50 Jahre gemeinsames Lernen von Mädchen und Knaben

Was sollte man im 50-Jahr-Jubiläum also feiern? Wohl dass sich die Stiftsschule durch tragfähige Entscheide im richtigen Moment stetig weiterentwickelt hat und bis heute eine attraktive und nachgefragte Schule ist, eine Schule,  in der Knaben und Mädchen nicht nur miteinander, sondern auch voneinander lernen und das für tausende Schülerinnen und Schüler in den letzten 50 Jahren schon Realität geworden ist. Das Jubiläum müsste also nicht unbedingt «50 Jahre Mädchen an der Stiftsschule», sondern «50 Jahre gemeinsames Lernen von Mädchen und Knaben» heissen.

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