Lukas Bärfuss: Hundert Tage

In seinem Debütroman beschreibt Lukas Bärfuss auf eindrückliche Weise den Völkermord in Ruanda. 1994 wurden in Ruanda 800’000 Menschen auf brutalste Weise mit archaischen Waffen wie Macheten ermordet.

Der aus akribischer Recherche erstanden Erstlingsroman beschränkt sich jedoch nicht auf einen Tatsachenbericht. Vielmehr möchte der Autor uns die Verwicklung Europas in den Genozid vor Augen führen und unsere Scheinheiligkeit relativieren.

Im Zentrum der Geschichte steht der jungen David Hohl, ein Idealist mit Schweizer Werten, welcher als Entwicklungshelfer in Ruanda arbeitet und eigentlich das „Gute“ bewirken will. David Hohl wird Augenzeuge des hundert Tage andauernden Massaker der Hutu an den Tutsi. Dabei muss er jede Menge Entscheidungen fällen und wird letzlich zum Mitschuldigen.

Die Geschichte zieht die Leserin bzw. den Leser in den Bann. Das mag zum einen an der klaren, direkten, teilweise auch vulgären Sprache liegen, aber auch an der Geschichte, welche ihre Spannung durch eine Mischung aus Liebe und nackten Tatsachen bewahrt. Lukas Bärfuss zeigt uns dabei eine Sicht auf das Weltgeschehen auf, welche wir gerne verdrängen. Einer dieser Aspekte ist die Entwicklungszusammenarbeit. Die Entwicklungshelfer haben den Willen etwas Gutes zu tun, bewirken jedoch auch das Gegenteil. Konkret  wird hier der Konkurrenzkampf der unterschiedlichen Hilfsorganisationen beschrieben, während anderswo an den Abgründen, an den Brennpunkten menschlichen Leids niemand zu finden ist. Hinzu kommen die Medien, welche auf möglichst grausame Bilder aus sind.  Und auch wenn die Direktionen im Grunde Positives bewirken wollte, tragen auch sie eine Mitschuld. Dies wird David Hohl bewusst, zum Beispiel als er dem Radio, welches auch als Mordinstrument genutzt wird, lauschte. Er realisiert, dass die Direktion und damit die Europäer nie die Absicht hatten, „die Völkermörder das Handwerk zu lehren“ und dennoch glaubte er „einem sehr erfolgreichen Projekt der Direktion zu lauschen“. Dieser Gedanke wird später in einer weiteren Selbstreflexion des Protagonisten fortgeführt. „[…] deshalb gaben wir ihnen den Bleistift, mit dem sie dann die Todeslisten schrieben, deshalb legten wir ihnen die Telefonleitungen, durch die sie den Mordbefehl erteilten, und deshalb bauten wir ihnen die Strassen, auf denen die Mörder zu ihren Opfern fuhren“. Einer der erschreckendsten Sätze in diesem Buch, welcher verdeutlicht, dass ein Völkermord in diesem Ausmass nicht möglich gewesen wäre ohne die europäische Entwicklungshilfe –so zumindest die provokante These Bärfuss`. Es wird uns somit ein Spiegel vors Gesicht gehalten und wir können uns nicht hinter unserer Scheinheiligkeit verstecken.

Als Angestellter der Direktion macht sich David mitschuldig. Denn obwohl er sich nicht aktiv an den Morden beteiligte, hat er, wie auch Europa zum  Genozid beigetragen. Bärfuss formuliert dies treffend: „Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obendrauf zu bleiben und nicht in der roten Sosse unterzugehen.“

In den Rezensionen liest man auch, dass der Roman nicht ein Buch über Ruanda, sondern über die Schweiz sei. Offensichtlich ist dem Bezug zur Schweiz Bedeutung beizumessen. Bärfuss verdeutlicht, dass ein solcher Genozid nur in einem systematischen, gut organisierten System möglich ist, in dem Ordnung und Pflichtbewusstsein zu den tragenden Werten zählt. Bärfuss widerlegt damit die Annahme, dass Bürgerkriege willkürliche Exzesse grausamer Menschen sind. Denn diese sind nur in einem geregelten Staatswesen möglich. So ermordet Davids Gärtner genauso wie viele andere Menschen aus Pflichtbewusstsein. Diese Umstände lassen den Leser darüber nachdenken, ob ein solcher Mord auch in der Schweiz möglich wäre.

Ich denke, das Buch weist im Kern darauf hin, dass wir immer mit einem Fuss in der Schuld stecken. „Hundert Tage“ zeigt auf, dass wir uns in Widersprüche verwickeln, bewusst oder unbewusst und dass unser Handeln für uns nicht abschätzbare Folgen haben kann. Wir können wählen, doch dem Dilemma von moralisch richtigem Handeln können wir nicht entkommen, denn das „Gute“ führt nicht unbedingt zum „Guten“, wie auch das „Böse“ nicht das „Böse“ bedingt, wobei wir uns am Ende fragen, ob wir wirklich zwischen „Gut“ und „Böse“ urteilen können

Alina Jud (6c)

5 Gedanken zu „Lukas Bärfuss: Hundert Tage

  • Februar 20, 2017 um 12:16
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    ist das das einzige Buch, das dieser Lukas Barfuss geschrieben hat?

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    • Februar 20, 2017 um 18:10
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      Nein, der Schweizer Autor Lukas Bärfuss hat noch einen weiteren Roman mit dem Titel “Koala” geschrieben. In diesem Buch wird Suizid thematisiert. Zudem hat er eine Novelle und sehr viele Theaterstücke verfasst.

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  • Februar 21, 2017 um 15:45
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    Achso, habe nur gefragt, weil ich den noch nie gesehen hab 😉

    Antwort
  • Februar 21, 2017 um 15:53
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    Könnt ihr vielleicht mal dieses Koala vorstellen? :3

    Antwort
    • Februar 23, 2017 um 23:12
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      100 Tage ist ein wirklich empfehlenswertes Buch, das muss ich an dieser Stelle nochmals bestätigen! In Koala beschäftigt sich Bärfuss mit dem Suizid seines Bruders, ein sehr spannendes Thema also. Laut meinem Vater ist dieses Werk nicht so gelungen wie sein Debütroman, aber er ist, was Bücher anbelangt, teils sehr wählerisch und launisch. Hier noch ein NZZ-Artikel: https://www.nzz.ch/ein-gruendlich-erklaertes-requiem-1.18256715

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