Interview mit Klaus Cäsar Zehrer

von Ursula Baumhauer und Kerstin Beaujean, Juni 2017, veröffentlicht mit der freundlichen Genehmigung des Diogenes Verlags (Kerstin Beaujean <kb@diogenes.ch> an Benedikt Aegerter am 6.Oktober 2017)

 Herr Zehrer, wie würden Sie Ihren Roman in wenigen Sätzen zusammenfassen?
Das Genie erzählt ziemlich nah an den historischen Fakten entlang die wahre Lebensgeschichte von William James Sidis. Williams Vater Boris kam 1886 als jüdischer Einwanderer aus der Ukraine in die USA und machte dort eine steile Karriere als einer der ersten Psychotherapeuten. Er behauptete, eine Methode erfunden zu haben, mit der sich jedes Kind zum Genie erziehen lässt. Zusammen mit seiner Frau Sarah hat er die Methode an seinem 1898 geborenen Sohn ausprobiert. Das Ergebnis war, zurückhaltend ausgedrückt, höchst erstaunlich.

William James Sidis wurde als Wunderjunge von Harvard gefeiert. Könnten Sie sein Leben und die Meilensteine kurz schildern?

Berühmt war er zu seiner Zeit vor allem für seine mathematische Begabung, aber das war längst nicht sein einziges Talent. Von seiner jüngeren Schwester Helena ist der schöne Satz überliefert: »Billy konnte alle Sprachen der Welt, mein Vater nur siebenundzwanzig.« Mit acht Jahren hatte er nicht nur seinen High-School-Abschluss in der Tasche, sondern auch die Zulassungsprüfungen für die Harvard University und das MIT bestanden. Dass er extrem schnell lesen konnte und ein absolutes Gedächtnis für alles je Gelesene hatte, dürfte dabei kein Nachteil gewesen sein.

Nach Sidis’ Tod wurde sein Intelligenzquotient anhand der überlieferten Daten auf 250 bis 300 geschätzt. Obwohl eine solche Zahl natürlich mit äußerster Vorsicht zu genießen ist, taucht er deswegen auf irgendwelchen Internet-Listen der intelligentesten Menschen aller Zeiten immer wieder auf Platz eins auf – weit vor Einstein, Leonardo, Newton und Co.

Warum kennen wir William James Sidis, den »intelligentesten Menschen aller Zeiten«, nicht mehr?

Paradoxerweise aus dem gleichen Grund, der seine Geschichte so spannend und vielschichtig macht: Er hat als Erwachsener nicht das Leben einer Musterakademikers geführt, das jeder von ihm erwartet hatte. Stattdessen hat er den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen, wurde im Ersten Weltkrieg Totalverweigerer und führte fortan einen ziemlich einsamen Untergrundkampf für eine friedlichere, gerechtere Gesellschaft – mit guten Absichten, aber bescheidenem Erfolg. Seine Zeitgenossen hielten ihn für einen geistig ausgebrannten Versager und verachteten ihn. Bis er mit 46 Jahren starb, schlug er sich als Hilfsarbeiter durchs Leben. Erst in den 1970er Jahren, dreißig Jahre nach seinem Tod, begann man, sich für seine Ideen zu interessieren, alte Berichte über ihn zu sammeln und seinen Namen vor dem endgültigen Vergessenwerden zu bewahren.

Würden Sie sagen, er ist gescheitert?

Das ist eine der zentralen Fragen des Buchs. Die Beantwortung möchte ich dem Leser überlassen. Wer William James Sidis für eine gescheiterte Existenz halten will, findet jede Menge Anhaltspunkte dafür. Andererseits möge man berücksichtigen, dass er an einer ehrenwerten, aber unmöglichen Aufgabe gescheitert ist: der, ein richtiges Leben im falschen zu führen.

Den meisten Menschen, mich eingeschlossen, kann man vorwerfen, dass eine mehr oder minder große Kluft zwischen ihren Idealen und ihren Taten besteht. Ihm nicht. Da ist endlich einmal einer, der ohne faule Kompromisse seinen Überzeugungen folgt. Dass er für seine Konsequenz nicht belohnt wird, ist die bittere Pointe der Geschichte, aber nicht unbedingt seine Schuld.

Was hat Sie persönlich an William James Sidis fasziniert? Haben Sie ihn ins Herz geschlossen?

Da ist zum einen natürlich diese sagenhafte Superintelligenz und das Rätsel, welchen Anteil daran die Erziehungsmethode seines Vaters hatte. Aber das allein hätte für einen Roman nicht ausgereicht. Noch mehr als der junge Sidis interessiert mich der erwachsene. Nur weil man eine einzigartige Intelligenz besitzt, heißt das ja nicht, dass man keine Probleme im Leben hat, im Gegenteil. Eine einsame Ausnahmestellung ist eben zunächst einmal genau das: einsam.

Sicherlich besaß der historische Sidis einen bunten Strauß an charakterlichen Schrammen und Macken, aber dennoch ist er für mich ein Held. Und zwar kein strahlender Held – Siegertypen sind langweilig und literarisch unergiebig –, sondern einer von der Sorte, die sich ideal für eine Romanfigur eignen: ein gebrochener Held auf aussichtslosem Posten.

 Der Vater von William James Sidis, Boris Sidis, war der Ansicht, dass aus jedem Kind ein Genie geformt werden kann. Was meinen Sie? Oder hatte William James Sidis nun mal ganz spezielle Voraussetzungen?

In der Tat warb Boris Sidis offensiv für seine Erziehungsmethode, indem er behauptete, fast jedes Kind könne die gleichen Fähigkeiten entwickeln wie sein Sohn, es müsse nur auf die gleiche Weise erzogen werden. Er hatte ja auch viele gute, fortschrittliche Ideen. Gegen Frühförderung und spielerisches Lernen ist nicht viel einzuwenden, besonders wenn man bedenkt, dass damals noch eine brachiale Rohrstock-Pädagogik gang und gäbe war.

Nur unterschätzte Boris andere Faktoren, die, wie man heute weiß, ebenfalls stark zur Intelligenzentwicklung beitragen, etwa genetische. Und dass der kleine Billy während seiner gesamten Kindheit von mehr Harvard-Professoren als von gleichaltrigen Spielkameraden umgeben war, wird wohl auch nicht ohne Folgen geblieben sein.

Wie sind Sie auf diesen Stoff gekommen?

Durch Zufall und Internet. Anfang 2009 habe ich im Fernsehen eine Dokumentation über Menschen mit Inselbegabung gesehen, sogenannte Savants. Sie sind in den meisten Lebensbereichen unbeholfen bis hin zur geistigen Behinderung, können aber in irgendeinem Spezialbereich schier Unglaubliches leisten, beispielsweise die siebte Wurzel einer fünfzehnstelligen Zahl im Kopf auf hundert Nachkommastellen genau ausrechnen. Das hat mich interessiert, und ich habe im Netz ein bisschen herumgeklickt, um mehr über solche geistigen Extremleistungen zu erfahren. So bin ich auf eine Seite gestoßen, auf der es nicht mehr um Savants ging, sondern das »exzentrische Genie William James Sidis« erwähnt wurde. Ich hatte den Namen noch nie zuvor gehört, war aber von seiner Geschichte elektrisiert und habe mir sofort alles besorgt, was es über ihn zu lesen gab.

Sie haben einen Roman über Figuren geschrieben, die es wirklich gab. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Bei der Beschäftigung mit William James Sidis stößt man permanent auf amerikanische Geistesgeschichte. Sein Patenonkel und Namensgeber war der bedeutende Philosoph William James; ein Kommilitone von Sidis, Norbert Wiener, wurde einer der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts; ein anderer, Adolf Berle, ein wichtiger Berater von Präsident Roosevelt; Sidis’ Cousin Clifton Fadiman war ein populärer Radiomoderator. Sogar Martha Foley, Sidis’ große, unerwiderte Liebe, hat eine Autobiographie veröffentlicht. Sie hatte sich als Herausgeberin der Literaturzeitschrift Story einen Namen gemacht. Natürlich ist es Autorenpflicht, sich mit diesen historischen Persönlichkeiten und ihren Biographien zu beschäftigen, auch wenn sie nur in einer Nebenrolle auftauchen.

Aber sehr viel mehr Recherchezeit kostete es, die Zeit und die Orte, an denen die Geschichte spielt, einigermaßen realistisch wiederzugeben. Die Romanhandlung beginnt 1886 und endet 1944. Das war eine Epoche fundamentaler Umbrüche. Da stellten sich fast bei jedem Satz Fragen: Ab wann genau verfügte man in welchen Kreisen über elektrisches Licht, Telefon, Radio? Was hat man gegessen, welche Kleidung getragen, wie sich fortbewegt? Wie erklärte man sich eine Krankheit wie Typhus und wie behandelte man sie? Zum Glück ist die Staatsbibliothek in Berlin, in der ich viele, viele Stunden zugebracht habe, gut mit alten Nachschlagewerken ausgestattet.

Im allerletzten Korrekturdurchgang habe ich noch schnell eine Buchsbaumhecke durch eine Wacholderhecke ersetzt, weil ich mir unsicher war, ob man um 1910 in amerikanischen Parks Buchsbaum pflanzte. Mein Respekt vor allen Schriftstellern, die in der Zeit vor Google und Wikipedia akkurate historische Romane geschrieben haben, ist grenzenlos.

Klaus Cäsar Zehrer, Das Genie

Roman, Hardcover Leinen, 656 Seiten, erschienen am 23.8.2017

ISBN 978-3-257-06998-3, € (D) 25.00 / (A) 25.70, sFr 34.00
Ein Videointerview mit Herrn Zehrer findet sich auf: https://www.youtube.com/user/diogenesverlag/videos 

(Mit freundlicher Genehmigung des Diogenes-Verlages, Mail am 6.10.2017 Kerstin Beaujean <kb@diogenes.ch> an Benedikt Aegerter)

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