Worin besteht die Faszination der Dialektologie, Herr Obradovic?

Tom Obradovic ist Germanist und derzeit als Praktikant in den Klassen 1b, 2d und 3a an der Stiftsschule tätig. Er ist Absolvent der Universtität Zürich und arbeitet auch am Schweizerischen Idiotikon, dem offiziellen Mundartlexikon der Schweiz, mit.

Was macht ein Dialektologe?

Dialektologen befassen sich mit der Erforschung von Dialekten. Ursprünglich war das Ziel der dialektologischen Untersuchungen, frühere Sprachzustände zu rekonstruieren, da Dialekte normalerweise ältere Sprachformen in grösserem Masse als normierte Standardsprachen bewahren. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schlägt die Dialektologie neue Wege ein – sie widmet sich der wissenschaftlichen Beschreibung von Mundarten in ihrem soziologischen und geografischen Kontext. Die heutige dialektologische Arbeit besteht hauptsächlich aus Sammeln von Sprachmaterial, dessen Aufarbeitung und Publikation in Wörterbüchern, Grammatiken, Monografien von Regionen und Orten sowie Sprachatlanten.

Worin besteht konkret Ihr Aufgabenbereich?

Mein Aufgabenbereich besteht grösstenteils darin, das vorhandene Untersuchungsmaterial für den siebzehnten Band des Schweizerischen Idiotikons (Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache) zu bearbeiten. Das Mundartmaterial, welches durch die Arbeit von etwa 400 Korrespondenten zusammengekommen ist, enthält hauptsächlich Zettel mit einem Wort oder einer Redensart, evtl. einem kleineren Kontext und einer Quellenangabe. Um die Zettel für die Lexikografen (Personen, die Artikel eines Wörterbuchs verfassen) brauchbar zu machen, muss ich die angegebenen Quellen durchsuchen, das jeweilige Wort in einen grösseren Kontext setzen und, wenn möglich, dessen Bedeutung ausformulieren.

“Dialekt ist eine identitätsstiftende Sprechweise”

Warum ist Dialekt ein wertvolles Kulturgut?

Weil Dialekte vor allem in der Schweiz viel mehr als nur ein Stück Heimat und eine identitätsstiftende Sprechweise sind. Mundarten sind ein Spiegel der regionalen Kultur. Insbesondere aus dem dialektalen Wortschatz kann man viel über die Lebensweise, Bräuche und Tätigkeiten einer Region oder eines Orts erfahren. Darüber hinaus haben schweizerdeutsche Mundarten eine Literaturtradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Auch heute gibt es bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihre Werke auf Dialekt verfassen, wie beispielsweise Ariane von Graffenried, Pedro Lenz oder Arno Camenisch. Dabei darf man auch die zahlreichen Mundartlieder nicht ausser Acht lassen, die von den grossen Liedermachern wie Mani Matter, Polo Hofer oder Patent Ochsner geschrieben wurden.

Was zeichnet den Einsiedler Dialekt aus?

Würde man einen urchigen Einsiedler fragen, was den Einsiedler Dialekt so besonders macht, so würde er höchstwahrscheinlich Begriffe wie Schneei, schöün oder Clouschter erwähnen. Im Kanton Schwyz sind diese zerdehnten Doppelvokale ‘ei’ (statt ‘ee’), ‘öü’ (statt ‘öö’) und ‘ou’ (statt ‘oo’) tatsächlich typisch einsiedlerisch. Im gesamtschweizerischen Kontext werden aber Vokale auf solche Weise auch im Sarganserland und vereinzelt im Kanton Graubünden zerdehnt, jedoch nicht so konsequent wie in Einsiedeln, wo dieses Zerdehnen sogar auf Wörter übertragen wurde, die man ursprünglich unterschiedlich aussprach (z. B. ouni für ‘ohne’).

“Der gesellschaftliche und technische Wandel fordern neue Bezeichnungen für Lebensweisen und Geräte, die bisher nicht existierten.”

Verändert sich die Mundart auch? Wenn ja, wie?

Ja, durchaus. Die Veränderungen sind jedoch sehr komplex, weil sich Wortschatz, Grammatik und Laute verschieden verändern. Ausserdem läuft der Wandel je nach Region oder Ortschaft unterschiedlich ab. Am bemerkbarsten zeigt sich der Mundartwandel im Bereich des Wortschatzes. Viele alte Bräuche, Gerichte und Gegenstände, wie beispielsweise Biestmilchspeise (ein Gericht aus der sogenannten Biestmilch, der ersten Milch von Kühen, die gekalbt hatten) oder Kiltgang (abendlicher Besuch eines Burschen bei einem Mädchen) sind verschwunden und somit auch ihre dialektalen Bezeichnungen. Gleichzeitig fordern der gesellschaftliche und technische Wandel neue Bezeichnungen für Lebensweisen und Geräte, die bisher nicht existierten. Es findet aber auch Wortschatzwandel statt, welcher keine logische Folge von solchen Veränderungen ist. So konnten sich z. B. die Ausdrücke Rösti, fad oder Sack zu gesamtschweizerdeutschen Varianten entwickeln. Die Ursache dafür liegt hauptsächlich in der heutigen Mobilität, die dazu führt, dass man sich allgemeinverständlicher ausdrücken muss und die Begriffe wie Brägel, ööd oder Scharnutz vermieden werden.

Welcher ist der schönste Schweizer Dialekt?

Bekanntlich liegt die Schönheit im Auge des Betrachters, oder, in diesem Fall, im Ohr des Zuhörers. In zahlreichen Umfragen, welche bereits unter den Schweizerdeutschsprechenden zu diesem Thema durchgeführt wurden, zeigen sich ähnliche Ergebnisse: Berndeutsch, Bündnerdeutsch sowie Walliserdeutsch gehören zu den Gewinnern und Thurgauerdeutsch zu den Verlierern. Solche Perzeptionen haben jedoch ihren Ursprung vor allem in den eigenen Erfahrungen und Vorurteilen über eine Region und deren Bevölkerung. Mir persönlich klingt der Dialekt des Taminatals (ein Seitental des alpinen Rheintals im St. Galler Oberland) am schönsten.

“Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters, oder, in diesem Fall, im Ohr des Zuhörers.”

Und welches das originellstes Schweizer Mundartwort?

Originelle Mundartwörter gibt es jede Menge. Vor allem bei den Personenbezeichnungen, Übernamen, Tierbezeichnungen, Fluchwörtern und Adjektiven finden sich kreative und einmalige Begriffe. Dazu kommen mir folgende Bezeichnungen in den Sinn: Zaaläbyyger (= Obwaldner Wort für Buchhalter), Muchli (= ursprünglich ‘Rind von gedrungenem Körperbau’, in der Ostschweiz eine Bezeichnung für ‘plumper Mensch’), Gäärschtefrässer (= Zürcher Bezeichnung für ‘Goldammer’), füdlenglanz (= Adelbodner Ausdruck für ‘sauber’) und Schnorragiiga (= Valser Begriff für ‘Mundharmonika’).

Kann man die Schweizer Mundart auch lernen?

Schweizerdeutsch kann man auch lernen. Mittlerweile gibt es fast keine Sprachschule in der Schweiz, die nicht auch Schweizerdeutschkurse im Angebot hat. Für einige schweizerdeutsche Dialekte gibt es sogar Lehrmittel, beispielsweise für Berndeutsch, Glarnerdeutsch, Ostschweizer Dialekte und Zürichdeutsch. Diese können einem behilflich sein, den Wortschatz thematisch und die Grammatik systematisch zu erlernen.

Und hier geht es zum Schweizer Iditikon:

https://www.idiotikon.ch/woerterbuch/ueber-das-wb

Ein Gedanke zu „Worin besteht die Faszination der Dialektologie, Herr Obradovic?

  • November 16, 2021 um 09:28
    Permalink

    Wow was für eine herzerwärmende Story

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