Was ist das, was Ihr wollt?

Arno Camenisch besuchte die Stiftsschule und sprach mit den Schülerinnen und Schülern über Literatur und die grossen Fragen des Lebens. (22.11.2021)

Die Idee stammt ursprünglich von Abt Urban. Er hatte Arno Camenisch bei einer gemeinsamen Fernsehsendung kennengelernt und so die Anregung in die Stiftsschule gebracht: Diesen Schweizer Autor müsste man einmal einladen und mit den Schülern ins Gespräch bringen. Die neuerliche Kontaktaufnahme gelang und so stand der heute in Biel lebende Bünder Arno Camenisch am vergangenen Montag im Theatersaal auf respektive vor der Bühne, las unter anderem aus seinem neuesten Roman «Schatten über dem Dorf» und gab den Schülerinnen und Schülern auch so manchen Tipp mit auf den Weg.

Als Camenisch selbst im Alter der Schüler war, empfand er die Literatur als «anderen Planeten». Den jugendlichen Bündner interessierte Fussball und Skifahren. Sehr wohl nahm er aber die Sprachenvielfalt in seinem Heimatdorf Tavanasa wahr. Da wurde im eigenen Haus rätoromanisch gesprochen, bei den Nachbarn italienisch, im Elternhaus eines Freundes französisch, bei den Gastarbeiterfamilien auch portugiesisch oder eine Sprache des Balkan. Diese Sprachenvielfalt habe ihn hellhörig gemacht, erzählt der heute 43jährige Schriftsteller.

Seit 13 Jahren Schriftsteller

Nachdem der Berufsberater ihn mit zwei Ordnern abgespeist hatte, kamen ihm die Begriffe «Schreiner oder Maurer» in den Sinn – oder doch mit einem Kollegen das Lehrerseminar in Chur besuchen?  Tatsächlich entschied Camenisch sich vorerst für den Lehrerberuf, nach insgesamt fünf Jahren des Reisens und Unterrichtens im Ausland, davon drei Jahre an der Schweizerschule in Madrid, absolvierte er das Literaturinstitut in Biel, wo er auch heute noch seiner Tochter wegen lebt. Seit 13 Jahren ist er als Schriftsteller tätig, soeben ist mit «Schatten über dem Dorf» sein 12. Buch herausgekommen. Schriftstellerei ist eben auch Arbeit, wie er betont.

Daheim in der Surselva

Beispiele seines Schaffens trägt er weitgehend auswendig auch im Theatersaal vor. Es geht ihm vor allem ums Erzählen im wörtlichen Sinn, ums Erzählen, was damals im Dorf gewesen ist, wer die Menschen waren, wie sie miteinander jassten oder schwiegen. Er liest Ausschnitte aus früheren Büchern, alle in Tavanasa spielend, aber auch neuere Spoken-Word-Texte, die auch ein wenig daran erinnern, wie er als 18-jähriger mit Freunden begann, auf Rätoromanisch Vierzeiler zu verfassen und vorzutragen und wie er als 20-jähriger bei Literaturwettbewerben merkte, «da geht eine Welt für mich auf». Die Freude am Spiel mit der Sprache ist ihm geblieben; das wird deutlich, wenn er heute seine Texte erzählend inszeniert. Da ist einer, der diesen Beruf vor allem ausübt, weil ihm das am Herzen liegt und der eine Welt literarisch gestaltet, die ihm auch realiter sehr nah ist, die Surselva, wo er bis heute «daheim» ist, wo er merkt, welche Kraft ihm die Umgebung bis heute gibt. Und ob er mit den Protagonisten seiner Bücher etwas zu tun habe? «Natürlich bin ich das», so Camenisch, dem seine literarischen Geschichten auch persönlich «ganz nah» sind.

Schweigen oder reden

Wenn er vor Schülern liest, ist ihm eines wichtig: «Dass ihr etwas mitnehmen könnt.» Er rät den Stiftsschülerinnen und Stiftsschülern, dass sie in eigenen Texten bewusst davon schreiben, was sie selber schon erlebt haben. Dann würden die Schüler ja auch alle Gefühle kennen, die mit der Situation einhergehen. «Stellt Euch vor, ihr erzählt das ganze einem guten Freund.» Vielleicht liess sich der eine oder andere auch vom Spoken-Word-Text «Was ich im letzten Jahr gelernt habe», inspirieren, das eigene Leben zu reflektieren oder auch die eigene Zwei- oder Mehrsprachigkeit neu schätzen zu lernen. Ausgehend vom neuesten Roman «Schatten über dem Dorf», in der er eine reale Tragödie in Tavanasa erzählt – «ein Buch, das ich schon seit 10 Jahren schreiben wollte» – lobt er aber auch die heutige Haltung der Jugendlichen, Dinge auf den Tisch zu legen und auch anzusprechen, denn im Roman legt sich durch das grosse Schweigen vor allem ein «grosser Schatten» über das Dorf, wie der Titel schliesslich auch lautet.

Was ist das, wofür Euer Herz schlägt?

Die unmittelbarste Frage, die Camenisch auch Studierenden am Massachusetts-Institut of Technology in den USA gestellt hat und nun auch den Stiftsschülern, ist aber wohl jene, die auch die Maturanden aktuell beschäftigt: «Was ist das, wofür Euer Herz schlägt? Was ist das, was Ihr wollt?», so Camenisch an die junge Generation. Wo haben oder werden die Schülerinnen und Schüler ihren Weg finden und sagen: «Da ist mir eine Welt aufgegangen»? Diese Frage darf wohl alle über den Vortrag hinaus noch etwas beschäftigen, so wie es auch in einem Vers des Poetry Textes lautete: «dass etwas mit dem Ende noch lange noch nicht fertig ist.»

Maria Egartner

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