Das Motiv “Nationalsozialismus” in Peter Weiss “Ermittlung” und Alfred Anderschs “Vater eines Mörders”

von Lukas Zanker, 6c

Zwölf Jahre lang herrschte der nationalsozialistische Terror über Deutschland und ganz Europa. In den sechs Jahren Krieg fanden, nebst Millionen von Soldaten und Zivilisten, schätzungsweise über sechs Millionen Juden, Sinti, Roma, Slawen und sonstige “Untermenschen” in den deutschen KZs den Tod. Unter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler errichtete die Schutzstaffel in kurzer Zeit einen, sich über ganz Europa erstreckenden Massentötungskomplex, der Menschen wie Objekte ausbeutete und vernichtete. Nach Ende des Krieges waren viele fassungslos, wie es dazu hatte kommen können. Wieso partizipierten viele Leute in der industriellen Ermordung anderer Menschen? Wie konnte die menschenverachtende Ideologie der Nazis so populär werden? Peter Weiss und Alfred Andersch versuchen beide, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Auch wenn in der Herangehensweise fundamentale Unterschiede bestehen, gibt es doch Ähnlichkeiten in der Darstellung des Nationalsozialismus bei beiden Autoren. Welche Aspekte des Nationalsozialismus werden also von Peter Weiss bzw. Alfred Andersch aufgegriffen?

Ein Dokumentartheater voller Ausreden

In dem 1965 uraufgeführten Werk “Die Ermittlung” von Peter Weiss sind die Frankfurter Prozesse von 1963 – 1965 zentraler, inhaltlicher Aspekt des Werkes. Dort wurden zum ersten Mal NS-Kriegsverbrecher vor ein deutsches Gericht gestellt, um genauer zu sein, die Wachmannschaften des KZ Auschwitz, in dem über eine Million Menschen starben. Peter Weiss war selbst Zuschauer bei den Prozess, “freiwillig”, wie er stets stark betont. Sein Werk ist eine Verdichtung der Zeugen- und Angeklagtenaussagen von damals, um ein leserliches, logisch strukturiertes Werk bereitzustellen. Inhaltlich spiegelt es die Realität wieder, nur formal werden Änderungen unternommen, was typisch ist für das Dokumentartheater. Weiss beschreibt den Weg der Gefangenen von der Ankunft im KZ, über den schrecklichen Alltag im Lager bis zum grausamen Tod durch Erschiessung oder Vergasung und anschliessender Verbrennung. Eine nüchterne, auf Poesie verzichtende Schreibweise, hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck von den Gräueltaten. Doch vor allem in den Aussagen der Angeklagten kommen die Aspekte des Nationalsozialismus zum Ausdruck, mit denen sich Peter Weiss beschäftigt: “Nur Erfüllung eines dienstlichen Befehls”, “Ich hatte nie etwas damit zu tun”, “Da war ich gar nicht zuständig”. Derartige Ausreden und Unschuldsbeteuerungen ziehen sich durch das ganze Buch und zeigen, wie die Angeklagten versuchen, die Schuld von sich zu weisen. Jedoch lassen diese Aussagen noch tiefer in die damaligen Umstände blicken. Sie liefern einen Erklärungsversuch, warum so viele ordinäre Beamte, Ärzte, Soldaten und auch Zivilpersonen am Massenmord der Nazis teilnahmen. Man zerlegte die Tötung eines Menschen in verschiedene, kleine Schritte, die an sich nicht grausam erscheinen. Der Erste verhaftet auf Anordnung eines Hochrangigeren eine Person, der Zweite fährt den Zug ins KZ, der Nächste bringt die Ankommenden in den Lagerkomplex, wiederum der Nächste stellt sie an die schwarze Wand oder in die Gaskammer und wiederum der Nächste erschiesst die Person oder lässt Zyklon B einlaufen, natürlich nur auf Befehl eines Obersten. Obwohl am Schluss jemand sterben muss, hat anscheinend niemand Schuld daran. Man habe ja nur dieses oder jenes gemacht, stets nur Befehle befolgt. So lässt sich die Schuld auf einen anderen schieben bzw. auf viele Leute verteilen. Eine gerissene Taktik, die sich das NS-Regime zu Nutzen machen wusste. So lässt sich kein Schuldiger identifizieren und doch machen sich alle zu Mitschuldigen. In diesem Konstrukt aus Befehlen und Anordnungen findet Peter Weiss die Ursache für das unvorstellbare Ausmass des Grauens in den Konzentrationslagern.

Der Vater Heinrich Himmlers

In seinem 1980 postum erschienen Werk “Der Vater eines Mörders” wählt Alfred Andersch eine komplett andere Erzählperspektive. In der auktorialen Schulgeschichte geht es um den mittelmässigen Schüler Franz Kien, der die Person Andersch’ wiederspiegelt. Das Buch spielt im Jahre 1928 und erzählt von einer Griechischstunde am Wittelsbacher Gymnasium. Der langweilige, aber durchaus fachkundige Lehrer Kandlbinder will die Lektion beginnen, als plötzlich der Direktor des Gymnasiums, der alte Himmler das Klassenzimmer betritt. Der “Rex”, wie ihn die Schüler nennen, bringt Kandlbinder in Verunsicherung. Nach und nach ruft dieser Schüler nach vorn, um ihre Griechischkenntnisse zu testen. Doch die Stunde entwickelt sich zu einem wahren Horror für Franz Kien und seine Mitschüler. Zwei der drei aufgerufenen Schüler, Franz Kien und der Jungadlige Konrad von Greiff, fliegen infolgedessen von der Schule. Die Geschichte an sich scheint so inhalts- und bedeutungslos zu sein, was soll denn eine Griechischstunde bei einem zynisch gesinnten Direktor schon aussagen? Erst in den historischen Kontext gesetzt, und in Anbetracht des Titels lassen sich tiefgründigere Motive und Aspekte jener Zeit aufzeigen und mit dem Nationalsozialismus in Verbindung stellen. Der “Rex” ist nämlich der Vater Heinrich Himmlers, späterer Reichsführer SS und Massenmörder. Alfred Andersch stellt mit diesem Werk die Frage, ob die Person des alten Himmlers und seine autoritäre, willkürliche Erziehungs- und Lehrmethodik die Zukunft des jungen Himmlers und seine späteren Gräueltaten erklären. Könnte Andersch diese Frage beantworten, hätte er vermutlich das Buch nicht geschrieben. Des Weiteren kritisiert er die humanistische Bildungsweise des Wittelsbacher und anderer, vor allem süddeutscher Gymnasien zu dieser Zeit. Der unangefochtene Gehorsam und stetige Unterwerfungswille, der dort vermittelt wird, stehen in erschreckender Nähe zur nationalsozialistischen Doktrin. So lässt sich möglicherweise erklären, weshalb vermehrt Jugendliche sich für die Nazis begeistern liessen. So erkundet Andersch die Ursachen des Dritten Reiches in den sozialen Tugenden und Ansprüchen der Weimarer Republik.

In der Schule militarisiert

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide Werke sich intensiv mit dem Nationalsozialismus befassen und versuchen soziale Erklärungen für die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 zu finden. In welcher Gesellschaft und unter welchen Voraussetzungen konnte es dazu kommen? Während Peter Weiss die Gräueltaten direkt und nüchtern aus einer unpersönlichen Nachkriegsperspektive beleuchtet, beschreibt Andersch die Gesellschaft aus einer persönlichen, jugendlichen Vorkriegsperspektive. In “Vater eines Mörders” wird nie explizit von den Verbrechen des Dritten Reichs gesprochen, wie in der Ermittlung, sondern Motive und Entwicklungen lassen sich aus den Beschreibungen des Franz Kien stets nur erahnen. Auch das Motiv des familiären Einflusses, wie es in der Familie Himmler, aber auch in der Familie Kien zu erkennen ist, findet man bei Peter Weiss nicht. Beide Werke finden im bestehenden Militarismus, dem Befehlsgehorsam ein zentrales, gesellschaftlich tief verankertes Motiv für die Popularität der NS-Ideologie. Beide Werke sind ein Appell an die Tatsache, dass nicht nur psychopathisch veranlagte Megalomanen, wie Himmler sicherlich einer war, zu solchen Verbrechen fähig sind, sondern “normale” in der Schule militarisierte, abgehärtete und indoktrinierte Menschen, die nur einen kleinen Schritt in der verflochtenen Tötungsmaschinerie übernahmen. Wer in Auschwitz Erschiessungsbefehle befolgt, hat das im Wittelsbacher Gymnasium so gelernt.

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