Peter Weiss` Entwicklung vom sich selbst bespiegelnden zum politisch aktiven Beobachter

von Abaris Schild, 6c

Der unzugehörige Beobachter: In seinen jungen Jahren verarbeitete Peter Weiss in seinen Werken stets seine eigenen Erfahrungen mit der verlogenen und ignoranten Gesellschaft und zog sich in „totale Isolation“ zurück. Später allerdings veröffentlichte er sozialistische Werke und trat in die Politik ein. Ein Blick auf sein Schaffen, insbesondere auf „Die Ermittlung“, erklärt diese Entwicklung.

Peter Weiss recherchierte ausführlich für sein Werk.

Fragt man die Leserschaft heute nach den beliebtesten und berühmtesten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, fallen Namen wie Hermann Hesse oder Bertold Brecht; Schriftsteller, die bewegende, revolutionäre Werke verfassten, welche uns bis heute wortgewaltig, dramatisch und voller Spannung in Erinnerung geblieben sind. Es verwundert dehalb nicht der Name Peter Weiss heutzutage nur wenigen ein Begriff, die sich nicht eingehend mit der deutschen Literatur befasst haben. Weiss, 1916 geboren, ein Mann, der nicht nur schreibend tätig war, sondern jedes erdenkliche künstlerische Medium für seinen Stoff ausprobierte, erlangte erst in den Sechzigerjahren europaweite Bekanntheit, geriet allerdings immer wieder in Verruf, weil er ein unbequemer Zeitgenosse war. Erst bei näherer Betrachtung seiner Persönlichkeit und seines Werks wird ersichtlich, wie brisant und politisch sein gesellschaftskritischer Stoff ist. Seine höchst unkonventionellen Methoden, diesen der Leserschaft vor Augen zu führen, trägt dazu bei.

Weder ein Gesellschaftsmensch noch ein Genussmensch

Peter Weiss war weder ein Gesellschaftsmensch wie Thomas Mann noch ein komödiantischer Genussmensch wie Dürrenmatt. Bereits die Familie, in die er hineingeboren wurde, insbesondere seine Mutter mit ihrer schauspielerischen Verlogenheit, und ihr bourgeoises Umfeld brachten ihn dazu, sich zurückziehen in seine eigenen Gedanken und Traumwelten. Der Tod seiner Schwester, bei der er stets Geborgenheit gefunden hatte, stürzte ihn in eine schwere Depression, mit der er mehr als ein Jahrzehnt zu kämpfen hatte. „Das Zittern liess mich nicht mehr los“, äusserte er sich später zu diesem düsteren Lebensabschnitt. Erst der Kontakt zur Künstlerszene in Berlin gab ihm eine Perspektive, da es ihm gelang, seine Kindheit voller Einsamkeit, Ängste und Trauer künstlerisch zu verarbeiten. Deshalb dreht sich der düstere Inhalt der Werke des frühen Weiss gänzlich um ihn selbst, um seine Einsamkeit und seine Verlorenheit in der Gesellschaft. Später befreite er sich aus diesem Solipsismus, doch eines blieb gleich: stets sah sich Weiss als Beobachter, der nirgends wirklich dazugehört; als Unzugehöriger. In diesem Sinne schrieb er auch beinahe alle seine Stücke und Prosatexte.

Der einsame, orientierungslose Beobachter

Dabei war das geschriebene Wort gar nicht Weiss‘ erste künstlerische Ausdrucksform und sie blieb bei weitem auch nicht seine einzige. Der Schriftsteller malte besonders in seinen jungen Jahren. Dabei entstanden stets traurige, dystopische Bilder, die seine Frau Gunilla Palmstierna-Weiss nach seinem Tod mit den Höllendarstellungen Hieronymus Boschs verglich. Die meisten seiner Bilder sind entweder in einem mittelalterlich anmutenden oder surrealistischen Stil gehalten und zeigen meist in irgendeiner Form eine Selbstdarstellung des Künstlers als einsamer, orientierungsloser Beobachter und Aussenseiter. Die ebenfalls immer wieder auftretenden Motive des umherirrenden Blinden und der verlorenen Menschen sind eine fundamentale Kritik an der ignoranten Gesellschaft, wie Weiss sie erlebte.

Hinwendung zur politischen Dokumentation

Als Peter Weiss begann, sich politisch zu engagieren und die Ketten seiner bisher fortwährenden Gefangenschaft in sich selbst zu sprengen, änderte sich auch sein Kunstverständnis. Statt der Verarbeitung seiner Kindheit standen jetzt andere Themen im Vordergrund, wobei er daran zweifelte, dass die Malerei diese hinlänglich darzustellen vermag.

Viel berühmter ist Weiss für seine Auseinandersetzungen mit dem Dritten Reich und der Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Den Krieg selbst erfuhr Weiss nicht an eigener Haut und kümmerte sich auch nicht sehr darum, denn noch war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als er jedoch 1948 nach Berlin reiste, geschah dies unter anderem aus einer gewissen politischen Absicht: „Ich kam als Fremder, der sich ansah, was aus diesem Land geworden war; voller Kühle und Distanz.“ Seine Beobachtungen waren düsterer Natur, da er sah, wie sein Heimatland die NS-Vergangenheit unter den Teppich zu kehren versuchte, ungeachtet der Tatsache, dass viele der für die Katastrophe Verantwortlichen noch immer ungestraft ihr Leben lebten. Weiss sprach von einem „Leerraum“, der dort klafft, „wo der Dämon gewütet hat.“ Fünfzehn Jahre später, im Jahre 1963, entdeckte Weiss den Auschwitzprozess als eine Möglichkeit, diese Lücke zu füllen. Erstmals wurden hier nicht nur hochrangige Parteifunktionäre der NSDAP vor ein Gericht gestellt, sondern auch die kleinen Leute wie du und ich, deren Verbrechen vermeintlich nur auf Druck von oben begangen worden waren und von denen man der Auffassung war, sie seien nicht zur Rechenschaft zu ziehen. In seinem Stück „Die Ermittlung“, das auf den Geschehnissen des Auschwitzprozesses basiert, stellte Weiss allerdings genau diesen Schuldbegriff in Frage. Er sah darin nämlich die Ursache für den erwähnten „Leerraum“ in der deutschen Geschichte.

Ein Oratorium über die Verbrechen in Konzentrationslagern

Der Schriftsteller selbst nennt sein Stück ein „Oratorium in 11 Gesängen“. Darin zeichnet er akribisch den Verlauf eines fiktiven Prozesses gegen Verbrecher des nationalsozialistischen Systems nach. Weiss beschreibt damit den Weg der Häftlinge von der Deportation bis in die Krematorien und alle Facetten des Lebens und Sterbens im KZ, indem er sowohl Kläger und Zeugen wie auch die Angeklagten zu Wort kommen lässt.

Bezüglich der Form des Werkes entschied er sich für eine besonders moderne Gattung der Dramatik: Das Dokumentartheater. „Die Ermittlung“ basiert ausschliesslich auf realen Begebenheiten, die Weiss unter Verwendung seiner künstlerischen Freiheit in eine literarisch ansprechende Form gebracht und verdichtet hat. Dazu verfolgte er nicht nur den Auschwitzprozess, sondern betrieb auch seine eigenen Nachforschungen, sowohl vor Ort in Konzentrationslagern wie auch in Archiven. Er sammelte dabei ständig Beweismaterial, um später dem Leser ebenso unermüdlich das gleiche Grauen der Opfer und die gleichen Rechtfertigungen der Täter in immer wieder neuer Form vor Augen zu führen. Erwin Piscator, der Regisseur einer Aufführung von Weiss‘ Stück in der BRD, pflichtete diesem Ansinnen bei: „Es kann eigentlich keine wichtigere Aufgaube für ein Theater geben, als  […] eindringlichst unsern deutschen Menschen klarzumachen, was in diesen Katastrophenjahren passiert ist.“

Stets stellt Weiss den von Zeugen und Opfern erzählten KZ-Erfahrungen die Rechtfertigungen der Täter gegenüber. Der Zuschauer oder Leser versteht anhand zahlreicher Beispiele schnell, wie ein solcher Grad der Vernichtung wie der in den Konzentrationslagern überhaupt möglich war: Stets versteckten sich die Angeklagten hinter dem auf Befehlen beruhenden System des Führerstaates, was als „Verantwortungsdiffusion“ bekannt ist. Man teilte den Massenmord in viele kleine Prozesse, an denen unzählige, sogenannte „normale“ Menschen beteiligt waren. Weiss weist zudem nach, wie die Täter geschickt eine die Tatsachen verschleiernde Sprache anwandten, um sich vor sich selbst und den anderen zu rechtfertigen.

“Diesen Menschentypen wird es immer geben”

Doch was wollte Weiss dem Publikum mitteilen, wenn er ihm die Mechanismen der NS-Vernichtungsindustrie vor Augen führt? Einerseits sollte sich Deutschland von Grund auf mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen und sich des totalitären Systems, welchem es vor Kurzem noch gedient hatte, ernsthaft bewusstwerden, um etwas gegen dessen immer noch bestehende Reste zu unternehmen. Andererseits zeigt er, dass die Täter nur in den seltensten Fällen von Anfang an Psychopathen waren, sondern Mitläufer, was darauf hindeutet, dass Verbrechen dieser Art immer, auch heute noch, geschehen können. „Diesen Menschentypen wird es immer geben.“, behauptete Weiss später.

Der Stil des Dokumentartheaters verdeutlicht zudem, dass, wie immer in Weiss‘ Werken,  sowohl er wie auch das Publikum einen Beobachterstandpunkt innehaben. Das Stück besteht beinahe ausschliesslich aus direkter Rede; der Schriftsteller präsentiert nur objektive Fakten, keine subjektiven Beschreibungen oder Kommentare und setzt auf den mündigen Leser. Dieses zurückhaltende Wesen Weiss‘ wird ebenfalls dadurch deutlich, dass er sich nicht anmasst, über die Begebenheiten zu urteilen oder Behauptungen aufzustellen, wie das die Beteiligten vermögen: „Nur wenn er selbst von seinem Stuhl gezerrt wird, […], weiss er, wie das ist.“ Denn obwohl Weiss als Jude geboren wurde, ist er auch auf jene Weise ein Aussenseiter und ein Unzugehöriger: „Ich blicke in diese Räumlichkeiten, denen ich selbst entgangen bin.“

Nach der „Ermittlung“ gelang es Peter Weiss endgültig, sich von seinen alten Ängsten und Sorgen zu befreien und in die Politik einzusteigen. Dieses Themengebiet lag ihm eigentlich schon seit seiner Jugend am Herzen; seine Frau Gunilla nannte den jungen Weiss später einen „intutiven, visonären, politisch denkenden Menschen“. Auf seine einzelnen politischen Werke soll hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Will man Peter Weiss als Mensch verstehen, ist es aber wichtig zu wissen, dass er mit Stücken wie „Marat/Sade“ oder „Trotzki“ passive Individualisten dazu animieren wollte, aktiv zu werden, indem sie  sich politisch und gesellschaftlich engagieren; ein Prozess, den auch er durchschritten hatte.

Die Ermittlung als Wendepunkt hin zum aktiven Beobachter

Im Grossen und Ganzen lässt sich feststellen, dass Peter Weiss sich in seinem Leben sehr weit entwickelte und veränderte. Durch seinen künstlerischen Schaffensprozess hat er es geschafft, vom gesellschaftskritischen, aber gleichsam einsamen und traumatisierten Solipsisten zu einem Politik praktizierenden Menschen zu werden. „Die Ermittlung“ stellt für mich eine Art Wendepunkt in Weiss‘ Entwicklung dar, was sich nicht nur in seinem Wechsel von der Malerei zur Schriftstellerei zeigt. In seinem Oratorium verbindet er nämlich seine bisherige Gesellschaftskritik und seinen dokumentarischen Stil, lediglich seine oder andere Erfahrungen darzustellen, mit politischen Argumenten. Das Stück ist keine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, wie er sie bisher betrieben hatte, sondern eine Beschäftigung mit der Vergangenheit seines Heimatlandes mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Dabei verlor Weiss keineswegs seine Objektivität, sondern wurde zum aktiven Beobachter.

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