Von Diderot bis Wikipedia, oder: Was du über Wikipedia (vielleicht) noch nicht wusstest

Sammlungen grosser Wissensbestände entstanden erstmals in der Epoche der Aufklärung. So verfasste etwa Diderot seine bekannte 29 Bände umfassende Enzyklopädie – eine Meisterleistung seiner Zeit und ein Kulturdenkmal bis heute. Doch zumindest einen Nachteil brachte das umfassende Werk mit sich: Es war auch schon im 18. Jahrhundert unfassbar teuer. Adelige liessen sich mit einem Exemplar in der Hand in Öl malen, so prestigeträchtig war der Besitz der Diderotschen Enzyklopädie und auch nur sie konnten sich ein Lexikon dieses Formats auch leisten.

Heute ist der Zugang zu Wissen um einiges einfacher: Diderots Werk könnte man in einer Neuauflage bei Orell Füssli in Taschenbuchformat erwerben (um nicht auf die im Auktionshaus Koller zu ersteigernde Originalausgabe von Diderot zurückgreifen zu müssen – Rufpreis 90.000 CHF), öffentliche Bibliotheken bieten mit kostengünstigen Abos Zugang zu tausenden Büchern, Universitätsbibliotheken ihren Studierenden auch gratis Zugang zum Wissensbestand der Scientific Community. Und allen Nachteilen zum Trotz bietet heute auch das Internet einen geradezu demokratischen Zugang zu Wissen: Universitäten stellen Werke online, grosse Lexika sind in Schulen in praktischem digitalem Format verfügbar (siehe Nachschlagewerke auf der Seite der Schulbibliothek), Dokumentation sind in Mediatheken einsehbar und nicht zuletzt entstand vor rund 20 Jahren eine «freie Enzyklopädie», eine an der tatsächlich jeder Mann/Frau selbst mitschreiben kann: Wikipedia.

Eines sei vorweggenommen: Wikipedia ersetzt keine sorgfältige Recherche für einen Vortrag und auch keine solide Prüfungsvorbereitung, es ist nicht Grundlage einer Maturaarbeit und doch ist Wikipedia die weitaus am häufigsten eingesehene Quelle, um sich «mal eben kurz» in einem Thema einzulesen. Bei google-Anfragen zu einem Begriff landet Wikipedia durch die hohen Aufrufzahlen und die zahlreichen Querverweise meist an erster oder zweiter Stelle. Und die Qualität der Beiträge? In manchen Bereichen «work in progress», in anderen jedoch erstaunlich gut. Eine Vielzahl an freien Enyzklopädisten steuern (kostenfrei) Beiträge und Bilder («commons») bei und korrigieren die Einträge der anderen SchreiberInnen, sodass das Onlinelexikon ständig weiterentwickelt und erweitert wird. Heute gibt es Wikipedia in über 300 Sprachen, wobei die Einträge nicht jeweils Übersetzungen der anderen Sprache sind, sondern eigenständige Aufsätze von Enzyklopädisten des je anderen Sprachraums. Allein in der Schweiz hat die Wikimedia-NGO 14 Festangestellte, die sich hauptberuflich um die Seite kümmern und tausende freiwillige Mitarbeitende. Und wer kann mitmachen/Artikel beisteuern? Jeder, der einen relevanten Inhalt in der jeweiligen Sprache verfassen und mit Quellen belegen kann, also auch Schülerinnen und Schüler.

Wie das geht, erläuterten vergangenen Samstag zwei Wikipdianer, einer haupt- der andere nebenberuflich, einer interessierten Lehrer- und Schülergruppe der Stiftsschule. In einem zweistündigen Kurs informierten sie über die Wikipedia-Community, die sich auch jährlich in freiwilligen Kongressen trifft und die als sehr entgegenkommend beschrieben wird, eine «Du-Kultur» in der Selbstbeschreibung: Auf Fehler in eigenen Artikeln werde meist höflich hingewiesen, Komma- und Rechtschreibfehler von anderen Redakteuren, die oft unter Pseudonymen wie zB. «Sternenjäger» oder «Lantus» auftreten, korrigiert, fehlerhafte Beiträge mit Kommentaren ergänzt. Mit wachsamem Auge werden die täglich neu erscheinenden Beiträge korrekturgelesen, verlinkt und ergänzt.

Als User ist den meisten Wikipedia schon ein Begriff, doch was steckt hinter dem Begriff und hinter den «fertigen» Lexikonseiten?

Was bedeutet der Name “Wikipedia”?

«Wikipedia» ist eine Zusammensetzung der Wortteile «wiki», hawaianisch für «schnell» und «pedia», als Hinweis auf den Enzyklopädie-Begriff, der im Wort enthalten ist. Im Untertitel nennt sich «Wikipedia» eine «freie Enyzklopädie». Sie will also unabhängig und neutral sein und verzichtet deshalb zum Beispiel auch auf Werbung.

Wer hat Wikipedia gegründet?

Wikipedia entstand im Umfeld des Silicon Valley aus einer Gruppe von Enthusiasten, einer «Nerdkultur», die sich der Idee frei zugänglichen Wissens verschrieb. Namentlich bekannt ist etwa Jimmy Wales, ein amerikanischer Internetunternehmer, der als einer der Mitbegründer gilt. Die einzelnen Ländergruppen entstanden aber zum Teil unabhängig davon durch neue Gruppen von freiwilligen Enzyklopädisten.

Wie viele Bände würde eine Printversion der deutschsprachigen Wikipedia umfassen?

Eine Printversion der deutschsprachigen Wikipedia würde mehr als 800 Bände umfassen. Eine definitive Zahl kann aber nicht genannt werden, da Beiträge täglich verändert, ergänzt oder neu geschrieben werden.

Woher weiss man, wie oft ein Wikipedia-Eintrag durchschnittlich pro Tag aufgerufen wird?

Am unteren Ende jedes Artikels kann man unter «Aufrufstatistik» die Zahlen einsehen. Der Beitrag über das Kloster Einsiedeln wird durchschnittlich etwa 150 Mal pro Tag aufgerufen.

Wo kann man nachschauen, wie sich der Eintrag im Laufe der Zeit entwickelt hat?

So mancher Beitrag beginnt mit nur einem Satz, der den gesamten Beitrag ausmacht. So etwa der Artikel über das Kloster Einsiedeln, der einer der frühesten der Wikipedia-Geschichte ist und 2003 hochgeladen wurde. Unter «Versionsgeschichte» kann man sämtliche Änderungen und Erweiterungen seit 2003 einsehen.

Was ist ein «Sichter»?

Redakteure, die mehr als 200 Mal hilfreich in andere Texte eingegriffen, sie korrigiert und ergänzt haben, können den Status eines «Sichters» erreichen.

Was ist ein «Editwar»?

Die Community sieht sich nach Angaben der Referenten als kooperative Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt und dem gemeinsamen Ideal einer freien Enyzklopädie verpflichtet ist. Heikel seien aber v.a. Themen wie Covid, Politik oder Religion, wo es auch zu grossen, zum Teil gerichtlichen, Auseinandersetzungen unter den Editoren kommt, einem «Edit war».

Kann man über sich selbst einen Beitrag schreiben?

Verlockend könnte es für so manchen sein, Wikipedia als Gratis-Werbeplattform zu verwenden, doch müssen die Beiträge die Relevanzkriterien erfüllen. Eine Privatperson, deren Leben nicht von öffentlichem Interesse ist, kann deshalb nicht einen Beitrag über sich hochladen und auch nicht von jemand anderen über sich selbst schreiben lassen. Zudem müssten auch Quellen zu der im Text präsentierten Lebensgeschichte angegeben werden. Nicht gerne gesehen werden auch Hinweise auf eigene Publikationen oder Dissertationen, da Autor und Redakteur-Name hier übereinstimmen.

Wie gibt man Wikipedia-Bilder im Quellenverzeichnis an?

Die Bilder auf Wikipedia sind als «Commons» freies geistiges Eigentum und können auch zu eigenen Zwecken weiterverwendet werden. Die Bild-Datenbank, die «Wikipedia Commons», ist damit die grösste frei zugängliche Bilddatenbank. Zitiert werden können die Bilder, indem man die Seite im lizenzhinweisgenerator.de eingeben, der ein gültiges Bildzitat generiert.

Stimmt das, was in den Wikipedia-Beiträgen steht?

Die Beiträge in Wikipedia sind unterschiedlich umfassend und unterschiedlich gut: Besonders gute Beiträge werden auf der Startseite vorgestellt oder mit einem L «lesenswert» ausgewiesen. Fehlerhafte Beiträge werden von anderen Redakteuren meist sehr schnell mit Kommentaren versehen oder korrigiert. So mancher Wikipedianer startet seinen Tag deshalb mit einer “Eingangskontrolle”: Neue Artikel werden gesichtet, kommentiert, verlinkt und ergänzt oder mit einem „Löschantrag“ versehen. Alle Angaben müssen auch mit Quellen versehen werden.

Wie schreibt man selber einen Beitrag?

Als Nachschlagewerk im deutschsprachigen Raum wurde für Neuredakteure die Broschüre «Gemeinsam Wissen gestalten» herausgegeben. Sie ist als Printversion oder online als pdf verfügbar. Auf den letzten Seiten der Broschüre sind auch fertige Arbeitsblätter für Schüler enthalten. Die Referenten bieten auch Workshops für Schulklassen an. Manche Schulklassen schreiben jährlich pro Schüler einen neuen Wikipedia-Eintrag, zB. über eine lokale Sehenswürdigkeit, selbst. Es ist auch möglich, bestehende Artikel zu korrigieren oder zu ergänzen.

Können auch Schüler Beiträge schreiben?

Auch Jugendliche können eigene Wikipedia-Beiträge beisteuern. Dabei gilt allerdings: Der Inhalt muss den Relevanzkriterien entsprechen (dazu im Suchfeld von Wikipedia wp:rk eingeben), mit Quellen aus Büchern oder Zeitungen korrekt belegt sein und der Text selbst muss in Form einer vorgegeben Syntax, einer Art Programmiersprache, geschrieben sein: Überschriften werden etwa mit doppelten =Zeichen geschrieben, sodass sie auf der Seite dann in Fettbuchstaben erscheint. Die Formatiersprache kann auf dem «Wikipedia-Spickzettel» eingesehen werden. Der Aufbau selbst ist auch in eigenen Vorlagen (zB. zu Biographien) vorgegeben und ist ebenfalls online einsehbar. Darüber hinaus gilt wie bei jeder wissenschaftlichen Arbeit, dass der Text selbst formuliert werden muss und «Zitate» auch mit Anführungszeichen ausgewiesen werden. Weitere Infos findet man auf Hilfe:Neuen Artikel anlegen – Wikipedia

Die Teilnehmenden des Seminar waren grossteils überrascht: Kaum jemand hatte sich eine derart grosse Community hinter Wikipedia vorgestellt, kaum jemand den niederschwelligen Zugang für möglich gehalten. Auf jeden Fall ein spannender Blick in die Welt der Wikipedianer. Herzlichen Dank für die Organisation der Veranstaltung.

Heute stehen uns Bücher und auch Online-Quellen als Nachschlagewerke zur Verfügung.

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