“Es ist ein schwieriges Fortkommen vom Pass”

von Francesco De Vecchi

Der Roman Momo wird als Ballett aufgeführt (‚TIME‘, Origen Festival). Ja, aber wie stellt man klug dar, dass jemand zuhört? Wie tanzt man Zeit? – Solche und ähnliche Fragen stellen wir einander auf der Fahrt zu unserem aussergewöhnlichen Ballettbesuch. Wir sind fünf Mitglieder der Stiftsschule auf der Suche nach Inspiration. Wir haben die Einladung von Giovanni Netzer, unserem Schulrat, als Gelegenheit genutzt, unser künstlerisches Raffinement zu bilden. Wir haben uns von Schule und Internat abgemeldet, die Vertretungen und Nachprüfungen geregelt, wir suchen den Turm auf den Bergen. 

Banal nämlich und geradezu billig würde es sein, man stellte das Zuhören dar, indem man auf das Ohr zeigt oder die Hand an das Oht anlegt, wie man es tut, um leise Geräusche besser aufnehmen zu können. Das müsste anders dargestellt werden. Aber wie? Zuhören ist ja wie jede Sinneswahrnehmung ein passives Geschehen: Man nimmt etwas wahr. Das ist alles. «Man muss unterscheiden», sagt Cosima treffend, «zwischen Hören und Zuhören. Zuhören meint nicht die akustische Wahrnehmung, sondern die Zuwendung zum Inhalt». «Zum Inhalt und zum Erzähler», präzisiert Julia mit herausforderndem Blick. 

Unser Gespräch driftet ab, denn wir fahren durch den sonnendurchflutenden Zürchersee, genaugenommen über den Seedamm. Ich denke an Fredi Trütsch, der mit seiner Bootsmannschaft im letzten Frühjahr von Walenstadt nach Zürich fuhr. «Da ist das Kloster Wurmsbach!» Es ist schon Frühling, das Gras hell grün, ich freu mich, dass der Winter enden will. «… viel wärmer als in Einsiedeln …», sagt Flavia. Ich esse das Znünibrötli von gestern, bin fröh, dass wir nicht die gewöhnliche Strecke gewählt haben, die Anreise ist lang auf den Julierpass, und wir haben noch einiges zu bereden. Aber ich folge den Gesprächen nicht, schweife umher in dieser schönen Welt. Es ist ein Privileg, von den sympatischsten Schülerinnen zum Ballett begleitet zu werden. Ich fühl mich wohl in ihrer Gesellschaft. Die Gespräche sind freundlich, manchmal persönlich, witzig manchmal, konzentriert, keck. «Proficiency» sagen sie, wenn sie es sehr gut finden, sonst «advanced» oder «nicht advanced». Jemand gehe ins Englisch, weil ers kann, jemand weil ers braucht. Ich muss viel lachen, diese charmanten jungen Damen machen mir Freude. Ich werde an ihren Blicken bemerken, wie die Menschen um uns im Zug unsere Reisegesellschaft mit Wohlwollen beobachten. 

Die Anreise ist wirklich lang auf den Julierpass. Wir verlassen die Schule um 12 und werden um 23 Uhr wieder zurück sein. In Chur wartet Daniel, Lehrer aus der Umgebung von Chur, mit einer Liste auf uns. Er hat freiwillig die Aufgabe übernommen, zu kontrollieren, dass alle in die richtigen Busse steigen. Im Bus schlafe ich, mir wird übel. Eine Cosima aus Bern hat sich neben mich gesetzt, sie hat mal bei Origen gearbeitet und erzählt mir jedes Projekt. Ich erkenne, dass wir alle, die wir dorthin fahren, eine Gemeinschaft bilden. Man redet miteinander, geht aufeinander zu. Das ist auch im Roten Turm so. Giovanni Netzer spricht mit uns Einsiedlern, nicht Aufregendes, nicht aufregend, einfach interessiert, freundlich, zugewandt. Ich rede mit Schülern vom Lyceum Alpinum Zuoz, Herr und Frau Sommer sind da, natürlich auch der Origener, Tänzer und Regisseur Ivo Bärtsch. Auch Rakhel mit Mitschülern der Scuola Teatro Dimitri aus Verscio sind gekommen, alle mit einem Nasenring. Freundliche, offene junge Menschen, die wohl in sowas wie in einer Findungsphase stecken. Wir trinken unseren Quitten- oder Zwetschgensirup, ich habe ein Olivenbrötli gegessen, was die Anfahrt und ihre vielen Kurven zum Stillstand führt.  

Der babylonische Turm, führt Giovanni Netzer aus, Grenzstein zwischen Nord und Süd, steht ausserhalb der οίκουμένη. Er vereinigt die Vielsprachigkeit und wurde errichtet aus Holz mit soundsovielen ellenlangen Eisenschrauben. Im August wird er abgebaut werden. Das wird es dann gewesen sein. «Ein Theater mit Fenstern», sagt Giovanni Netzer, «wir müssen warten, bis es dunkel wird.» Ich denke an mein griechisches Theater, eingelassen in die Elemente, unter freiem Himmel, mit Sicht über den Bühnenrand hinaus. Hat es eigentlich die grossen Dionysien auch einmal verregnet? Hat der athenische Martin Geiger die Dionysien wie einen Schneesporttag kurzfristig anberaumt oder verschoben? Auch das gehört nicht hierher. Giovanni Netzer stellt uns die japanische Regisseurin Yuka Oishi vor. Sie ist schüchtern, findet auf die einfachsten Fragen keine Antwort, verliert die Stimme, sieht sich nach Halt um. Giovanni Netzer legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie sagt auf Englisch, dass sie nichts sagen könne über ihr Stück, daher habe sie das Stück choreographiert. Ihre Sprache sei die Bewegung. So spricht eine kluge Frau. Sie, die gerade in San Francisco den Bolero aufgeführt hat, gehe in ihrer Arbeit vom Gefühl aus. Und bittet, sich auf sein Gefühl zu verlassen. Eine kluge Frau. Ich schäme mich für meine Frage, wie sich Zuhören im Ballett darstellen liesse. 

Und so beginnt das Stück, ein langsames Aneinandervorbeigehn, Aufeinanderzugehen. Ein Sinnbild des Lebens eben. Bald scheinen die beiden Tänzerinnen und drei Tänzer Marionetten, von Musik und wovon auch immer wie an blinden Fäden gezogen. Bald sind sie Gangster in einer der Filmästhetik entnommenen, surrealen Welt, rot beleuchtet, wo Gewalt und Verdrängung herrscht, die laut ist und abgelenkt. Der Flamenco passt gut in diese aufgeheizte Stimmung. Ich denke an Senecas fatis agimur. Dann erkenne ich, dass es draussen dunkel wird. Einzelne Schüler kichern im Publikum. Ich verstehe das. Bald verlieren wir uns in diese Welt, in ihre starken Bilder. Die Verzehrung des Menschen ist trefflich dargestellt, wie der Graue Mann wie einem Fisch aus der Angel die Seele aus dem Hals zieht. Momo verliert ihre weisse Unschuld und sitzt nunmehr als bunte Aufgeklärte da, nicht Anderes machend, aber als eine andere. Der graue Mann bekehrt sich und zelebriert mit Mehl die Reinigung von Aschermittwoch. Eine Erzählung in Bewegung ausdrücken? «Zuhören ist Mitgehen!», flüstere ich Emilia ins Ohr. 

Vier Schülerinnen besuchten gemeinsam mit Francesco De Vecchi eine Inszenierung von Giovanni Netzer auf dem Julierpass.

https://leben-arbeiten-graubuenden.ch/de/arbeiten/raum-fuer-grosse-geschichten

Die Reisegruppe am Julierpass

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