Abriss als legitimes Mittel der Stadtentwicklung?

Bericht zur Fortbildungsveranstaltung der UZH-Weiterbildung “Der Abriss der Stadt. Geographien von Ressourcen und Verdrängung” (29.9.2023)

Der Trend zum Wohnen in der Stadt hält weiter an. Dies gilt auch für die Schweiz. Zunehmend werden dabei ältere Wohnbauten, die zum Teil noch voll funktionsfähig sind, abgerissen, um neuen, teureren Wohnungen Platz zu machen. Ganze Bevölkerungsgruppen werden dadurch aus ihrer Wohngegend, ihrem Lebensumfeld und auch aus der Stadt verdrängt. In einem Stadtrundgang zeigten Architekt Oliver Burch vom Departement für Architektur der ETH, Stadtplanerin und Postdoktorandin Dr. Ifigeneia Dimitrakou und die Sozialgeographin Prof. Dr. Hanna Hilbrandt vom Institut für Geographie der Uni Zürich die Hintergründe auf.

In der urbanen Theorie wird seit Jahrzehnten die Gentrifizierung, die «Aufwertung» von Stadtteilen, beobachtet und in ihren Auswirkungen erforscht. Dabei geht es um mehr als um architektonische Ästhetizismen oder private Investments. Die Aufwertung der Bausubstanz wie sie nach einem Abrissereignis meist vorgenommen wird, hat auch unmittelbare sozialgeographische Folgen. Die Gentrifizierung, könnte man sagen, setzt sozialgeographische Prozesse in Gang, die vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen betreffen, heute aber längst auch im mittleren Einkommenssegment angekommen sind. Zunächst mag ein erster Blick des Spaziergängers also nur auf den modernen Neubau gerichtet sein, der dem Zeitgeschmack entspricht, einen hohen Ausbaustandard hat und mit vielen Quadratmetern pro Wohneinheit lockt, doch schon bald werden dem kritischen Besucher auch die sozialen und ökologischen Kosten dieser Aufwertung bewusst.

Die Zerstörung grauer Energie

Der Abriss der alten Bausubstanz stellt etwa einen beträchtlichen Energieverlust dar, immerhin werden tausende Tonnen Baumaterial («graue Energie») vernichtet, die nur zum Teil aufbereitet werden kann, am Beispiel Zürich etwa in einer Recycling-Anlage in Schlieren. Der energieaufwändigste Bestandteil, der Zement, bleibt dabei aber übrig und mitunter sind die Mengen an Bauschutt so gross, dass Gemeinden wie Rümlang ihre Deponiefläche erweitern wollten, dabei aber im konkreten Fall auf Widerstand stiessen, wie SRF am 15.04.2023 berichtete. Waldbesetzung im Kanton Zürich – Aktivisten protestieren in Rümlang gegen eine geplante Deponie – News – SRF

Soziale Folgen und persönliche Schicksale

Der Abriss und Wegzug der bestehenden Bevölkerung hat auch den Verlust des kollektiven Gedächtnisses eines Ortes zur Folge, da der Wechsel der Bevölkerungsgruppen die Weitergabe eben dieses Gedächtnisses unmöglich macht. Und nicht zuletzt stehen hinter der «Aufwertung» auch viele persönliche Schicksale, etwa wenn über hundert langjährigen Mietern einer Wohnanlage gekündigt wird und diese sich nach neuem Wohnraum umsehen müssen. Selbst einer über 80-jährigen Mieterin kann nach 60 Jahren Miete in einem Zürcher Wohnbau gekündigt werden, ohne Rücksicht auf Absicherung oder Versorgung. Ob das europaweit so möglich ist? Ifigeneia Dimitrakou bestätigt diese Anfrage; eine seltene Ausnahme stelle etwa die Stadt Wien dar, die auf eine lange Geschichte des sozialen Wohnbaus und des Mieterschutzes zurückgreifen kann. Im Vergleich zur Schweiz sei in Deutschland auch ein etwas stärkeres Mieterrecht zu beobachten, etwa indem Bauherren den Altmietern bei der Suche nach neuen Wohnungen Angebote unterbreiten müssen.

Bisher freuten sich die Bewohner im Heuried über leistbare Wohnungen und viel Grünraum. Nun wurde ihnen gekündigt.

Verdrängung im Heuried

In den Zürcher Stadtteilen am Fusse des Uetlibergs veranschaulichen gleich mehrere Wohnbauten diese Prozesse. Die derzeit noch bestehende Wohnsiedlung Heuried soll demnächst abgerissen werden. Den 108 Mietern der seit 1943 bestehenden Wohnanlage ist bereits gekündigt worden. Inzwischen hat sich der Widerstand der Bewohner formiert. Auch die Tageszeitungen berichteten, so der Tagi am 15.6.2023 mit der Schlagzeile: «CS reisst Gebäude ab. Bewohner wehren sich.» Eine entsprechende Petition wurde dem Stadtrat übergeben.  Praktisch notwendig scheint den Bewohnern der Abriss nicht zu sein, immerhin wurden die Gebäude regelmässig in Stand gehalten, noch vor einem Jahr ist eine neue Heizanlage eingebaut worden. In der rein ökonomischen Perspektive wird sich hier am Höfliweg die Bodenrente erhöhen, In der rein ökonomischen Perspektive wird sich hier am Höfliweg die Bodenrente erhöhen, auch weil die Stadtpolitik (z.B. das revidiertes Bundesgesetz über die Raumplanung von 2014 oder die neueste/aktuelle Bau- und Zonenordnung der Stadt Zürich) mehr Dichte fördert. Das bedeutet, dass auch der potenzielle Rendite pro m2 für die Eigentümer steigt. Der Rent Gap, also die Disparität zwischen den derzeit erzielten Mieteinnahmen und den potenziell zu erzielenden, verlockt also Investoren zu rein ökonomischen Entscheidungen, soziale Verluste inklusive. Oder ob der Abriss auch als notwendiges Übel angesehen werden kann, um nachhaltiger neu zu bauen? Auch hier stehen sich unterschiedliche Positionen gegenüber: Rechnet man einzig die Betriebskosten mag ein Abriss ökologischer erscheinen, macht man aber eine Gesamtrechnung, in der auch die graue Energie miteinberechnet wird, so wird der ökologische Kredit des Neubaus erst nach 30-50 Jahren abbezahlt sein. Die aktuellen Mieter werden davon aber nichts mehr haben. Sie werden sich die neuen Wohnungen nicht mehr leisten können.

Auch diese Genossenschaftswohnungen an der Gutstrasse werden demnächst abgerissen.

Aktuelle Trends in der Schweiz

Im Schweizer Kontext verzeichnet Zürich seit Jahren einen starken Zuzug. Entsprechend ist der Bedarf nach Wohnraum und nach verdichtetem Wohnen, also der Ausnutzung der Wohnfläche für möglichst viele Bewohner, sehr gross. Während in den 60er-90er Jahren noch die Expansion ins Umland die wichtigste stadtplanerische Idee war, die sogenannte Suburbanisierung einschliesslich entsprechender Zersiedelungsprozesse, also dem unstrukturierten Wachsen von Ortschaften, die dem Wunsch nach dem eigenen Hüsli gerecht werden wollten, setzte ab den 1990ern die Reurbanisierung ein. Zunächst kamen dabei auch alte Industrieareale in Betracht, die in Wohnraum umgebaut werden konnten.  Heute gibt es kaum mehr ungenutzte Industrieareale und man versucht seit den 2000er Jahren Neubauten in bestehenden Stadtstrukturen zu errichten. Für 84% der Neubauten in Zürich müssen deshalb alte Wohnungen weichen. Die angestrebte Verdichtung findet in den aktuellen Bestrebungen jedoch meist nicht statt. Statt der kleineren älteren Wohnungen, werden Mehrzimmer-Wohnungen mit über 100m2 errichtet, die zwar auf dem Papier als mehr Wohnfläche gesamt aufscheinen, aber nur einen geringen Zuwachs bei den Mieterzahlen bringen. Der individuelle Wohnflächenverbrauch, der 1962 etwa noch bei 26m2/Person und 2022 bei 42m2/Person lag, heizt die Abrissproblematik dabei auch von Konsumentenseiten an.

Plattenbauten am Triemli-Fussweg, im Hintergrund der Uetliberg

Plattenbauten in Zürich?

Die Baugenossenschaft an der Gutstrasse steht ebenfalls vor grossen Veränderungen. Noch stehen die Riegelbauten auf der stadtauswärts rechten Seite mit kleinen Schrebergärten direkt vor den geräumigen Balkonen. Bis auf einen höheren Wohnturm werden diese Bauten aber bald Neubauten weichen, hier allerdings noch im Besitz der Baugenossenschaft.

Auch Plattenbauten gibt es in Zürich und Architekt Oliver Burch verweist auf die Qualität dieser Bauform. Entlang des Triemli-Fussweges, den es nur deshalb gibt, weil in den 70er Jahren an dieser Stelle die Westtangente nicht gebaut wurde, bleibt der Wohnraum vorerst bestehen. Die Bauten sind im Stockwerkeigentum und die Vielzahl an Eigentümern verhindert einen schnellen Abriss. Die Verkaufspreise für die Wohnungen sind inzwischen dennoch marktwirtschaftlich gestiegen. Wohnungen in den oberen Geschossen mit Terrasse kosten auch hier über 1 Million Franken.

Ist neu immer besser? aber: für wen?

Ist die Verdichtung durch Abriss und Neubau gelungen?

Die Siedlung Wiedäckerring ist Ergebnis eines bereits erfolgten Abrisses. Der in den 70er- Jahren errichtete Gebäudekomplex wurde 2021 abgerissen. Die neue Zielgruppe wird bereits auf der entsprechenden Homepage «Mis Dihei am Uetliberg» angesprochen: Hier finde man Luxus und eine «Komposition von Natur, Architektur und Mensch.» Bei Mietpreisen bis 5000 CHF sind dabei neue Zielgruppen angesprochen. Von den früher 313 Wohnungen blieben zudem nur 183 übrig.

Am Ende bleiben viele Fragen offen: Wie kann leistbares Wohnen auch für untere und mittlere Einkommen möglich sein? Wie können Wohnungseigentümer und Anleger auch ihre soziale und ökologische Verantwortung wahrnehmen und welche politischen Rahmenbedingungen braucht es dafür? Und wie wird die Stadt der Zukunft aussehen, eine Stadt, in der idealerweise für alle Bevölkerungsgruppen Platz ist?

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