Wie erklärt man die Postwachstumsgesellschaft?
von Francesco De Vecchi
Postwachstumsgesellschaft ist eine Gesellschaft, die nicht von Wachstum abhängig ist, die die Notion des Wachstums hinter sich gelassen hat. Was bedeutet das? Dr. Leonard Creutzburg, Ökologischer Ökonom und Nachhaltigkeitsbeauftragter der Universität Zürich, erklärt, die Leistung einer Gesellschaft wird allgemein über das Bruttoinlandprodukt gemessen, das die Gesamtheit aller auf dem Markt gehandelten Waren und Dienstleistungen verzeichnet. Mir war neu, dass es dieses Konzept BIP zwar theoretisch bereits lange, praktisch relevant erst seit der grossen Depression 1929 und in unserem Sinne eigentlich erst seit dem zweiten Weltkrieg überhaupt gibt, im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau Europas.
Wirtschaftswachstum ist nicht gleich Wohlstandswachstum
In zahlreichen einander und das Gesamtbild ergänzenden Statistiken zeigt Herr Dr. Creutzburg, wie das BIP und andere Faktoren seit den 50er-Jahren regelrecht explodiert sind, in Hockeystick-artigen Kurven. Gleichzeitig stieg in Europa mit den 50er-Jahren der Wohlstand an. Ein wahrgenommenes (und immer mehr messbar gemachtes und gemessenes) Wohlstandswachstum korreliert nun mit diesem Wirtschaftswachstum und legt den Trugschluss nahe, dass Wirtschaftswachstum, und namentlich BIP-Wachstum, gleich Wohlstandswachstum sei. Der Ökonom Easterlin (https://de.wikipedia.org/wiki/Easterlin-Paradox) brachte bereits 1974 kritisch in diese volkswirtschaftlichen Erwägungen ein, dass subjektiv wahrgenommene Zufriedenheit nicht mit dem Wirtschaftswachstum korreliere.
Die Belastungsgrenzen der Erde
Nachdenklich stimmt auch, dass die Belastungsgrenzen der Erde (https://de.wikipedia.org/wiki/Planetare_Grenzen) global gesehen in sechs von neun Faktoren überreizt sind. Diese Tatsache lässt sich länderspezifisch ansehen (wenig verwunderlich überschiessen die EU und USA die planetaren Grenzen), aber im Prinzip scheint klar, dass ein globales Problem nicht national gewichtet werden kann.
Effizienz und Suffizienz
Wie wir das Problem wenden und drehen, am Ende besteht die Herausforderung darin, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen müssen. Und darum geht es beim Konzept Postwachstum: um die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch. Das kann auf verschiedene Arten geschehen: Man wird effizienter in der Produktion eines Gutes (wie neuerlich durch computergestützte Methoden) und kann bei gleich bleibenden Ressourcen mehr produzieren. Und damit hat man mehr zu verbrauchen. Das ist eine relative Entkoppelung. Damit aber lasse sich die Übernutzung unseres Planeten nicht verringern, sondern bestenfalls gleich übermässig halten. Bei einer übermässigen Übernutzung jedoch bliebe der Ressourcenverbrauch übermässig. Wir müssen also den ressourcenverbrauch absolut entkoppeln und reduzieren. Letztlich geht das nicht ohne unsere Bedürfnisse zu verringern. Der Fachmann spricht von Suffizienz (sufficit – es reicht): https://de.wikipedia.org/wiki/Suffizienz_(Politik).
Bezahlte Arbeit versus Freiwilligenarbeit
Soweit abstrakt tönt die Sache interessant und mit ein wenig guten Willens auch umsetzbar. Konkret steht der Umsetzung solcher Ideen primär im Wege, dass zahlreiche Faktoren unserer Gesellschaft von Wirtschaftswachstum abhängig sind und daher inhärent darauf ausgerichtet und daran interessiert, dass Wachstum wächst (sogenannte Wachstumstreiber). Der Staat erhebt seine Steuern auf fliessendes Geld, auf Erwerbsarbeit, von blossem Tätigsein hat er nichts. Seine Anregungen und Eingriffe in die Gesellschaft sind auf Faktoren gerichtet, die bezahlte Arbeit fördern. Von Freiwilligen- oder Subsistenzarbeit hat er nichts und wird es daher nicht fördern. Wäre allerdings weniger Geld in Umlauf, würden sich die Menschen weniger Ferien leisten (können) und weniger fliegen; die Menschen würden weniger konsumieren, weniger würde produziert, weil weniger nachgefragt würde. Der Mensch würde insgesamt bescheidener leben, mithin ressourcenschonender, und somit ginge die planetare Übernutzung zurück.
Wie über das Thema diskutieren?
Mit anderen Worten, denke ich abschweifend bei mir, wir lebten ein Leben wie in den Siebziger-Jahren (und man hört, das sei damals nicht schrecklich gewesen). Ganz neue Fragen kommen auf uns zu: Wie re-organisiert man bspw. Altersvorsorge oder Kinderbetreuung ohne Geld?
Bereits naht das Fazit des Vortrags, mit dessen Ende aber tritt unsere kleine interessierte Gesellschaft endgültig in ein Gespräch ein, das mit guten Ideen und Lösungsansätzen beginnt, mehr und mehr aber ins Destruktive abfällt. Leider, bestätigt Herr Dr. Leonard Creutzburg, passiere das regelmässig in solchen Veranstaltungen.
Ein neues Paradigma
Falls diese Wiedergabe der Grundzüge des Vortrags ein wenig banal scheint: Postwachstum versucht, innerhalb der Wirtschaftslehre ein neues Paradigma zu etablieren. Das ist ein wichtiger Beitrag, da die Wirtschaftstheorie mit ebensolchen Methoden kommt. Wichtig wäre natürlich, einer Wirtschaft, die auf Bedürfniserregung fusst, ebendiese auszutreiben. In diese Richtung weist der Versuch in Genf, öffentliche Werbung zu verbieten.
Ich habe für mich ein vollständigeres Bild der neueren europäischen Wirtschaftsgeschichte gewonnen und falls sich jemand fragt, wie man das unseren Schülern vermitteln könnte: Herr Dr. Creutzburg winkt ab, «Nicht Ihren Schülern müssen Sie das erklären, sondern handeln müssen Sie selbst danach!» Mit diesen Worten im Ohr mache ich mich auf den Weg nach Hause.