Ethik an der ETH – Eine Exkursion der 5a

Die Lektüre von Heinar Kippharts “In der Sache J. Robert Oppenheimer” führte zu Diskussionen über die Frage nach der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Ethik auch an heutigen Bildungsinstitutionen, wie etwa der ETH Zürich. Philipp Emch, Geschäftsführer der Ethikkommission, zeigte in seinem Vortrag heutige Kriterien und Prämissen auf, die gerade auch im Bereich der Humanforschung aktuell sind. Orientierung im Haus bot vorab aber eine Guided Tour von Untergeschoss bis Dachterrasse:

Ethik an der ETH – Eine Exkursion der 5a, 11.3.2024

Um das weitläufige Gebäude der ETH zu erkundigen, bietet sich eine Guided Tour an. In unserem Fall führte uns der eloquente Maschinenbaustudent Philipp durch das Gebäude, im wörtlichen Sinne vom Untergeschoss bis hinauf zur Dachterrasse. Der Fokus wurde dabei vor allem auf die lange Tradition der ETH gelegt (sie besteht seit 1855 und wurde somit bereits 7 Jahre nach der modernen Schweiz gegründet), die Internationalität (Masterstudiengänge sind fast durchwegs auf Englisch gehalten; im Doktoratsstudium sind 75% ausländische Studierende) und die herausragenden Leistungen der ETH-ForscherInnen: Im QS-Ranking erreichte die ETH den weltweit 8. Platz im Bereich der Spitzenuniversitäten. Ein Mathematiker gewann die Fields Medaille, „den Nobelpreis der Mathematik“. Im regelmässig stattfindenden Cybathlon werden die neuesten Exoskelette und ihr grosser Dienst für Paraplegiker vorgeführt. Und: Auch Albert Einstein studierte schon hier, was ein mit historischen Fotografien ausgestatteter Spint im 2. Stock mit Augenzwinkern bezeugt.

Heute kommen 24.530 Studierende in den Genuss dieser exzellenten Ausbildung, die allen Studierenden mit Matura offen steht und im Gegensatz zu etwa einem MIT mit einer Jahresgebühr von über 40 000 Dollar, auch fast kostenfrei ist. (Einzig die Studiengebühr von etwa 700 CHF/Semester sind zu bezahlen). 24 Studienrichtungen werden im Bachelor angeboten, 40 im Masterstudium. Neben der fachlichen Ausbildung werden auch «strategische Handlungsfelder» mitberücksichtigt, wie etwa «Verantwortung und Nachhaltigkeit».

Inspiration aus der Antike

Die Grazien am Brunnen in der Eingangshalle zeigen zudem, dass das Gebäude auch künstlerischen Ansprüchen gerecht werden will. Die Grazien, als Musen der Inspiration, mögen in diesem Sinne auch heutige Studierende inspirieren, ebenso wie das Gemälde des antiken Architekten Iktion, des Erbauers des Parthenon-Tempels in Athen, dem der Maler Giacometti einen inspirierenden Engel zur Seite gestellt hat.

Der Erbauer des stattlichen Gebäudes ist Gottfried Semper, der dem ETH-Gebäude ein funktionelles klassizistisches Gepräge verlieh. Sein Vorhaben, den Bau mit Statuen und Fresken zu schmücken, wurde aus Kostengründen aber abgelehnt: Schon in seiner heute sichtbaren „Rohfassung“ hatte er die veranschlagten Kosten um 70% überstiegen.

Student life

Für studentisches Vergnügen bietet die ETH, so Guide Philipp, zudem noch: einen Polyball direkt in der imposanten Haupthalle, repräsentative Hörsäle (im grössten Hörsaal mit Mikrofonen in der Studentenbestuhlung), Gratis-Buffets, die auch Studierende unauffällig stürmen können und nicht zuletzt eine imposante Dachterrasse mit Rundumsicht auf Zürich, die allerdings erst ab dem Doktorratsstudium den angehenden TechnikerInnen zugänglich ist.

Die Ethikkommission

Der zweite Teil unserer Exkursion führte uns zu einem Vortrag zum Hauptanliegen unseres Ausflugs, bei dem wir von der Lektüre Heinar Kippharts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ ausgegangen waren: Wie geht eine moderne Bildungsinstitution wie die ETH mit dem Thema Ethik um? Wie vereinbart sie Wissenschaft mit Ethik? Wer sind hier die Akteure? Was sind heute ethische Standards in der Wissenschaft?

Zur Beantwortung dieser Fragen stand uns Philipp Emch, seines Zeichens Geschäftsführer der Ethikkommission der ETH, zur Verfügung. Er studierte an der Uni Bern Philosophie und Ethik und bearbeitet in seiner aktuellen Funktion Anträge für Humanforschung, also Forschung mit Menschen oder Personendaten hinsichtlich ihrer ethischen Validität. Darunter fällt sowohl die medizinische Forschung am menschlichen Organismus, vom Embryo bis zum alten Menschen, als auch die soziologische und geisteswissenschaftliche Erforschung des Menschen (seiner Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Meinungen).

Doch wie kann man den komplexen Begriff der „Ethik“ in den Wissenschaften fassen? Wonach richtet man sich? Was sind die Kriterien? Und darüber hinaus: Wer legt sie fest?

Philipp Emch geht zur Veranschaulichung auf drei Kategorien ein: „Es gibt Forschung, die grundsätzlich positive Konsequenzen mit sich bringt“ und einen wertvollen Erkenntnisgewinn ermöglicht. Dazu zählt etwa die Entdeckung der Bakterien, die in weiterer Folge zur Erfindung des Penicillins führte, mit dem bakterienbedingte Krankheiten seit damals, genau genommen 1928, behandelt werden können.

Die zweite Kategorie sind Forschungen mit eindeutig negativen Implikationen, wozu Emch chemische Waffen und auch Atomwaffen als Beispiele anführt, denn: „Ihre negativen Konsequenzen für die Menschheit sind unbestritten“.

Das Abwägen der Folgen

Die meisten Forschungsvorhaben sind aber nicht so eindeutig zu bewerten. Dazu gehört im historischen Sinn etwa die Erfindung des dampfbetriebenen Webstuhls, der einerseits zur Eindämmung von Kinderarbeit führte, andererseits für viele HandweberInnen den Verlust des Arbeitsplatzes mit sich brachte, was diese dazu veranlasste, die neuen Fabriken zu stürmen.

Auch die KI bringt gleichermassen Chancen und Risiken mit sich. Einerseits ermöglicht sie etwa die effiziente Auswertung von Massendaten, andererseits verschärft sie möglicherweise die globale Ungleichheit, weil nur reiche Länder sich die neuen Technologien leisten können.

Innovationen, die sowohl im Zivilbereich wie auch als Kriegstechnologie eingesetzt werden können, je nachdem, wo und von wem sie eingesetzt werden, bezeichnet man als „Dual Use“, auch sie sind aufgrund dieses doppelten Charakters ethisch kontrovers. Dazu gehören etwa Drohnen, die einerseits eine genaue Erfassung eines Gebietes oder die Zustellung von Post o.ä. ermöglichen, andererseits Sprengstoff transportieren können. Auch Exoskelette gehören dazu. So wie sie es Paraplegikern ermöglichen, sich zu bewegen, so unterstützen sie auch Soldaten im Krieg für die militärische Fortbewegung.

Die Verantwortung über die Entscheidung zur Nutzung sieht Emch hier nicht nur bei den Forschenden allein, sondern auch in Gesellschaft und Politik, die die Rahmenbedingungen für den jeweiligen Einsatz etwa in Form von Gesetzen oder Richtlinien definieren. Auch Budgetvorgaben, z.B. ob ein Projekt über den Nationalfonds finanziert wird, können ein Steuerungsmechanismus sein.

Eigene Forschungsinstitute beschäftigen sich auch ganz spezifisch mit den ethischen Dimensionen der Forschung. In diesem Zusammenhang ist vor allem „TA Swiss“ mit Sitz in Bern zu nennen, das – so die Information auf der Homepage – „Grundlagen liefert, damit Sie sich ein eigenes Urteil bilden können.“ Der Auftrag dazu ist im Bundesgesetz über die Förderung der Forschung und der Innovation festgeschrieben. Organisatorisch gehört die Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung als Kompetenzzentrum zu den Akademien der Wissenschaften Schweiz.

Wer entscheidet?

Doch wie wird an der ETH konkret über die ethische Vertretbarkeit von Forschung entschieden? Einen guten Einblick geben gemäss Emch die Richtlinien der ETH Zürich zur wissenschaftlichen Integrität, wonach die Forschenden einerseits stark in die Pflicht genommen werden, die Tragweite ihrer Forschung und Erfindungen bereits bei ihrer Konzeption mitzubedenken. Andererseits wird darin auf die Begrenzung der Forschung durch nationale und internationale Gesetzgebung und ethische Richtlinien verwiesen. Dementsprechend können die Kriterien folgendermassen zusammengefasst werden:

  1. Die Risiken und Vorteile eines Forschungsvorhabens/einer Innovation sollen im Sinne einer Güterabwägung miteinander abgeglichen werden: Überwiegen also die positiven gegenüber den negativen Konsequenzen für Mensch und Umwelt?
  2. In der Grundlagenforschung soll auch vorausschauend bedacht werden, wozu die Erkenntnis in weiterer Konsequenz führen könnten bzw. wie sie allenfalls ge- oder missbraucht werden könnten. Man spricht hier von der „Technologiefolgeabschätzung“.
  3. Ethische und rechtliche Standards, wie sie in nationalen und internationalen Abkommen vereinbart wurden, sind einzuhalten. Ein Ausweichen und Auslagern von Forschung an ausländische Institute mit lockereren Standards ist nicht gestattet.

Potentielle Gefahren der Forschung

Doch mit welchen konkreten Forschungsvorhaben wenden sich Studierende und Professoren der ETH ganz konkret an die Ethikkommission? Emch nennt mehrere Beispiele: Ein Forschungsvorhaben hatte zum Ziel, die Rolle islamischer Rechtsgelehrter in islamistischen Konflikten in Krisenregionen zu untersuchen. Bei dieser sozialwissenschaftlichen Feldforschung wurde beispielsweise besonders darauf geachtet, dass die teilnehmenden Informanten und die gesammelten Daten sehr gut geschützt werden und nicht in falsche Hände geraten. Abgelehnt wurde auch ein Forschungsvorhaben, das die Wirkung bestimmter Mikroelemente auf die Immunwirkung einer COVID-Impfung in Afrika untersuchen wollte. Hier zeigte sich, dass der Standort keinen grösseren Erkenntnisgewinn mit sich bringen würde, vielmehr bestand die Gefahr, dass man nur auf eine grössere Zahl an Probanden spekulierte. Als bewilligtes Projekt nennt Emch aber beispielsweise eines von Prof. Hangartner, der mit eigens programmierten Bots versucht, die Hate Speech in den Sozialen Medien zu identifizieren, um daraus mögliche Strategien zur Eindämmung von Hate Speech voranzutreiben.

 Zur Geschichte ethischer Standards in den Wissenschaften

Doch woraus leitet sich die heute weitgehend als relevant anerkannte Notwendigkeit ethischer Standards ab? Philipp Emch verweist hier vor allem auf die missbräuchliche durchgeführte Pseudowissenschaft im Nationalsozialismus, als unter Zwangs- und Folterbedingungen Experimente an Gefangenen und KZ-Insassen durchgeführt wurden und weltweit Bestürzung hervorrief. So war der Nürnberger Kodex von 1947 der erste Standard, der im Bereich der Forschung am Menschen eingeführt wurde. In der Schweiz legt auch das Humanforschungsgesetz ethische Standards fest. Und nicht zuletzt machte man sich auch älterer, aber zeitlos gültiger Imperative der Forschung bewusst, etwa den Eid des Hippokrates, den angehende Ärzt:innen bis heute schwören: „Schade den Patient:innen nicht.“

Die heutigen Kriterien im Bereich der Human- und Geisteswissenschaften sind daraus abgeleitet, wie beispielsweise:

  • Die Freiwilligkeit der Teilnahme an der Forschung
  • Die Weitergabe der Studienresultate an die Probanden in verständlicher Form
  • Die Aufklärung über Risiken, die angewandten Methoden und das Studienziel
  • Der Datenschutz bezüglich der erfassten Personendaten
  • Die Möglichkeit, jederzeit aus dem Forschungsprojekt auszusteigen
  • Das Zur-Verfügung-Stellen von ausreichend Zeit für die eigene Entscheidungsfindung bezüglich der Teilnahme

Ethische Standards bei Oppenheimer im Vergleich zu heute

Die wissenschaftlichen Standards und die politischen Rahmenbedingungen sind heute, um auf unseren Ausgangsbezug zu Oppenheimer zurückzukommen, also ganz andere. Das demokratische System der Schweiz ermöglicht Rahmenbedingungen, die nicht einem militärischen oder parteipolitischen Interesse entsprechen, sondern an die Gesellschaft rückgebunden sind und die wissenschaftlichen Entwicklungen scheinen sich mit den ethischen Rahmenbedingungen Hand in Hand weiterentwickelt zu haben. Man hat offenbar die Erfahrungen der Vergangenheit ernst genommen.

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