Als das Muotathal Weltgeschichte schrieb

Projektwoche «Suworow» 22.-26. Mai 2023

Gastbeitrag von P. Mauritius Honegger

Die Gegenwart wirft kein gutes Licht auf Russland: Im Ukraine-Krieg steht es als Aggressor am Pranger und in der internationalen Gemeinschaft ist es zunehmend isoliert. Im Jahr 1799 sah das noch ganz anders aus: Das Zarenreich war mit England und Österreich verbündet und in der Schweiz wurden die russischen Truppen vielerorts als Befreier begrüsst. Wie war es dazu gekommen?

Dieser und ähnlichen Fragen auf den Grund zu gehen, entschieden sich zwölf Schülerinnen und Schüler der dritten Klasse, die sich für die Projektwoche «Auf den Spuren von General Suworow» anmeldeten. Das fünftägige Programm umfasste zwei Theorie-Tage an der Stiftsschule und eine dreitägige Exkursion durch die Kantone Uri und Schwyz.

Schlag gegen die Monarchie

Eine Einordnung des russischen Alpenfeldzugs in die grösseren Zusammenhänge der europäischen Geschichte nahm Dr. Stephan Zurfluh vor, der als promovierter Militärhistoriker, Oberst der Schweizer Armee und ehemaliger Geschichtslehrer an der Stiftsschule für diese Aufgabe gleich mehrfach qualifiziert war: Die Wiederentdeckung der griechischen und römischen Antike in der Zeit des Humanismus liess die Menschen erkennen, dass die gesellschaftliche Ordnung auch anders aussehen könnte, als sie sich ihnen präsentierte. Die Autoritäten Kaiser und Papst, die im Mittelalter noch als gottgegeben galten, wurden zunehmend in Frage gestellt. Nach der Reformation im 16. Jh., die sich gegen die katholische Kirche richtete, kam Ende des 18. Jh. mit der französischen Revolution der Schlag gegen die Monarchie. Das revolutionäre Regime eroberte in kurzer Zeit zahlreiche europäische Länder und marschierte 1798 auch in die Schweiz ein.

Das Kloster Einsiedeln mittendrin

Mit Hilfe eines Textes von P. Thomas Fässler, der sich in seiner Dissertation intensiv mit der Bedeutung des Klosters Einsiedeln in der Zeit der französischen Revolution befasste, konnten die Stiftsschülerinnen und -schüler nicht nur feststellen, dass die Gemäuer, in denen sie zur Schule gehen, bereits damals existierten, sondern auch dass das Kloster ein wichtiger Player in diesem Konflikt war. Als Teil der Eidgenossenschaft und Vasall der Habsburgermonarchie nahm es eine Zwitterstellung ein. Obwohl es sich zunächst um Neutralität bemühte, kippte es durch Kreditzahlungen an den Kaiser in Wien und die Aufnahme von Flüchtlingen immer mehr auf die anti-französische Seite, was schliesslich im Mai 1798 in die Plünderung des Klosters durch die Franzosen mündete.

Ein genialer Stratege

Der ehemalige Stiftsschüler Dr. Fritz Kälin (M 2005) gilt als anerkannte Autorität in militärhistorischen Fragen. Doch seine Stimme wird auch bei aktuellen sicherheitspolitischen Diskussionen wahrgenommen – noch vermehrt seit Beginn des Ukraine-Krieges. Dank guter Kenntnisse der russischen Sprache ist er auch mit der Sicht der anderen Seite vertraut und versteht es, auf die blinden Flecken in der westlichen Optik hinzuweisen. Es war ein grosses Privileg, dass er uns in der Projektwoche seine Zeit widmete und mit uns die Kampagne von General Suworow unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtete.

Die anspruchsvolle Topografie der Hochalpen stellte auch einen genialen Strategen wie Suworow vor grosse Herausforderungen: Im kargen Alpenraum die Verpflegung von mehr als 20’000 Mann sicherzustellen, erschien als eine schier unlösbare Aufgabe. Wie wenn Wanderameisen durchziehen, hinterlässt jede Armee eine kahle Landschaft; Leidtragende ist die einheimische Bevölkerung.

Die «hohle Gasse» Schöllenen

Die Exkursion begann am Dienstag mit der Besichtigung des Suworow-Hauses in Andermatt, wo die Russen nach der Überquerung des Gotthardpasses am 24. September 1799 ihr Hauptquartier eingerichtet hatten. Von dort wanderten wir die Schöllenenschlucht hinunter, die als einzige passierbare Verbindung zwischen dem Urserental und dem Rest des Kantons Uri eine wichtige strategische Bedeutung hatte. Die Franzosen wussten, dass Suworow mit seinen Leuten durch dieses Engnis kommen musste und passten ihn dort ab. Doch dem gewieften Taktiker Suworow gelang der Durchbruch, obwohl der Feind die einzige Brücke gesprengt hatte.

Echte Kanonenkugeln in Altdorf

Eindrücklich war auch der Besuch im Suworow-Museum von Walter Gähler ganz in der Nähe des Telldenkmals im Zentrum von Altdorf. Der passionierte Suworow-Fan hatte auf eigene Faust begonnen, auf den Schlachtfeldern im Glarnerland mit dem Metalldetektor nach Kanonenkugeln und anderen Überbleibseln des Krieges zu suchen. Die Fülle an Material, die er in den letzten Jahren gesammelt hat und nun in seinem Museum geordnet ausstellt, ist überwältigend und bezeugt die fortwährende Erinnerung an General Suworow, dem in der russisch-orthodoxen Kirche sogar religiöse Verehrung zukommt.

Einziger Ausweg Kinzigpass

Als Suworow in Flüelen ankam, musste er feststellen, dass es am Urnersee kein Weiterkommen gab: Es fehlten die Boote und die Axenstrasse existierte noch nicht. Doch auch aus dieser Sackgasse fand der erfahrene General einen Ausweg, indem er seine Armee über den 2073 Meter hohen Kinzigpass nach Norden schickte.

Diese Route nahmen am Mittwoch auch wir unter die Füsse. Obwohl uns der Nebel jegliche Sicht nahm, verfehlten wir den Weg nicht, vor allem auch dank der kundigen Führung von Religionslehrer Armando Auf der Maur (M 1997), der ein hervorragender Kenner des Urnerlandes ist. Ein wenig sahen wir uns in die Lage der russischen Soldaten versetzt, die damals mühsam den Berg hinaufkraxelten, denn auch wir mussten auf unserer Wanderung einiges ertragen: Die Bise blies uns ins Gesicht, Regen prasselte auf uns nieder und mit teilweise nicht optimalem Schuhwerk überquerten wir die immer noch vorhandenen Schneefelder auf dem Pass. Wie dankbar waren wir, als uns eine Älplerin zur Mittagszeit in ihre ofengeheizte Stube einlud. So viele Leute hätte sie schon lange nicht mehr im Haus gehabt, meinte sie; wir waren vierzehn. Stellen wir uns vor, dass im Jahr 1799 eine ganze Armee hier vorbeizog!

Schliesslich erreichten die noch verbliebenen 15’000 russischen Soldaten das Muotathal; im dortigen Franziskanerinnenkloster nahm der General Quartier. Zur damaligen Mutter Oberin, Schwester Walburga Mohr, soll er bei dieser Gelegenheit gesagt haben, sie wäre fähig, nicht nur eine kleine Gemeinschaft zu leiten, sondern eine ganze Armee. So berichtete es uns ihre Nachfolgerin Schwester Scholastica Oppliger, die heute dem traditionsreichen Kloster vorsteht, und berief sich dabei auf die Klosterchronik.

Rückzug und Abschluss

Im Muotathal musste Suworow erfahren, dass seine Verbündeten bei Zürich eine vernichtende Niederlage gegen die Franzosen erlitten hatten, sodass er sich gezwungen sah, seine Strategie zu ändern und den Rückzug nach Osten anzutreten, um auf österreichischem Territorium in Sicherheit zu gelangen. Und im Muotathal endete auch unsere Exkursion – nach einem spannenden Besuch des Höllochs.

Zurück an der Stiftsschule arbeiteten die Schülerinnen und Schüler fleissig an ihren Präsentationen, am Freitagnachmittag diskutierten wir mit den Experten Zurfluh und Kälin über heutige militärische Konflikte und hörten interessiert ihren Analysen zu. Zum Abschluss der gemeinsamen Woche war die ganze Projektgruppe von der Studentenverbindung Corvina zu einem Getränk ins Restaurant Klostergarten eingeladen. Recht herzlichen Dank allen, die mitgeholfen haben!

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