Auf den Spuren der Benediktsregel nach St. Gallen

Eine Exkursion der 6bc mit P. Thomas

„Willkommen im Unesco-Weltkurerbe Stiftsbezirk St. Gallen“ heisst es auf dem Eintrittsbillett in die aktuelle Ausstellung des Klosters St. Gallen. Gezeigt werden kostbare Exponate ab dem 9. Jahrhundert, Kuriositäten aus der Sammlung des früheren Fürstbistums (etwa ein versilberter Löffel des Heiligen Gallus) und das textgeschichtlich bedeutendste Exemplar der Benediktsregel, der Cod. Sang. 914 aus der Zeit nach 810.

Die Lateinschülerinnen und -schüler der 6bc hatten sich vorab mit der Benediktsregel beschäftigt und das Kapitel «Von der Aufnahme von Brüdern» übersetzt. Auch über die inzwischen digital einsehbaren Handschriften auf der Seite e-codices (http://www.e-codices.unifr.ch) waren sie informiert. Das aus Herden von Schafen und Ziegen hergestellte Pergament im Original zu sehen ist dann aber doch noch einmal etwas anderes.

Brücken zwischen Einsiedeln und St. Gallen

Soweit war also schon die Brücke zwischen Einsiedeln und St. Gallen geschlagen. Doch die beiden Orte verbindet noch weit mehr: So verfügen beide über wunderbare barocke Bibliotheken (in St. Gallen mit Deckengemälden zu den ersten Konzilien). Historisch gesehen waren St. Gallen wie auch Einsiedeln beide (benediktinische) Reichsabteien, unterstanden also direkt dem Kaiser des Hl. Röm. Reichs Deutscher Nation und beide wurden während der Wirren der Französischen Revolution aufgehoben. Für St. Gallen bedeutete dies tatsächlich das Ende des Klosters und den Wegzug der Mönche, in Einsiedeln konnte die Kontinuität der Klostergemeinschaft jedoch bis heute gewahrt bleiben. St. Gallen ist heute dafür Bischofssitz und die ehemalige Klosterkirche die «Kathedrale» St. Gallen.

Auf der Backstage-Führung in den Kirchturm

Eben die Kathedrale konnte am Nachmittag besichtigt werden. Die im Spätbarock erbaute Kirche ist typisch barock mit zahlreichen, hier türkis gehaltenen Stukkaturen ausgestattet, weist aber bereits einige klassizistische Elemente auf, etwa die Empore oder der mit klassizistischen Säulen versehene Hochaltar. Pastoral interessant ist die Versetzung des Volksaltars vor das Gitter der Kathedrale, womit man den Vorstellungen des Zweiten Vatikanums nach mehr «Volksnähe» einer Pfarr- und Bischofskirche nachkommen wollte. Das ehemalige Chorgestühl hat in St. Gallen dafür für monastische Zwecke ausgedient. Hier können inzwischen ausgewählte Gäste, in unserem Fall die Stiftsschüler, Platz nehmen und den Ausführungen von Christof Eberle auf der «Backstage»-Führung lauschen. Schliesslich erhob man sich aber aus dem mit Putten verzierten Gestühl und machte sich auf den Weg in den Kirchturm. Dicht gedrängt über steile Holztreppen konnte man schon bald die nach Gewicht schwerste Glocke der Schweiz besichtigen und eine seit dem 16. Jahrhundert intakte mechanischen Uhr besichtigen. Von ganz oben bot sich ein herrlicher Ausblick auf das an diesem Tag leicht verschneite St. Gallen, die Gebäude des heutigen Bischofssitzes, der auch drei Schulen (davon zwei geschlechtergetrennt und eine gemischt) beherbergt.

Von Bären und Heiligen

Der St. Galler Bär folgte uns leitmotivisch auf unseren Wegen durch den Klosterbezirk. War er schon im Wappen des derzeitigen Bischofs Markus Büchel sichtbar, so zeigte er sich auch in einem mit 12 Edelsteingruppen verzierten Distichon im Dommuseum, geschaffen von einem Mönch namens Tuotilo im 9. Jahrhundert, zu dem die Lernenden ebenfalls bereits Texte übersetzt haben. Es zeigt die Gründungslegende von St. Gallen, in der erzählt wird, dass der Heilige Gallus aus Irland kommend sich 612 im «Urwald» hinter dem Bodensee niederliess, einem Bären begegnete, ihn aber letztlich mit einem Laib Brot besänftigen konnte und Frieden mit ihm schloss. Aus der ersten Gemeinschaft, die sich um Gallus versammelt hatte, sollte Otmar, der zweite Heilige der Stadt, später das Kloster gründen. Er übernahm die

Regel Benedikts und wurde der erste Abt. Und auch eine Frau spielte für die weitere Enwicklung des Klosters eine grosse Rolle. Der Heiligen Wiborada wurde durch eine Vision offenbart, dass die Hunnen St. Gallen angreifen würden. Sie warnte den Abt, der daraufhin die Verlagerung von Handschriften und Schätzen an einen sicheren Ort veranlasste. Dass Wiborada ihrer Berufung nach eine Inklusin war, also eine Ordensfrau, die sich der Gottsuche verschrieb, indem sie sich in einem Kämmerchen einmauern liess, ist aus heutiger Sicht doch überraschend.

Wie schaut ein ideales Kloster aus?

Was ist im St. Galler Klosterbezirk weiters zu sehen? Etwa die älteste deutschsprachige Handschrift, der Abrogans, ein Glossar, das alphabetisch geordnet mit dem Wort «Abrogans» (=demütig) beginnt und im Anhang eine althochdeutsche Fassung des Vater Unsers enthält. Seit 2019 lüftet St. Gallen auch einen weiteren Schatz: das Original des St. Galler Klosterplanes, ein etwa 1,12m x 0,78m grosses Pergament, auf dem nach den Angaben der Benediktsregel ein idealer Bauplan eines Klosters zu sehen ist. Gezeichnet von einem aus Reichenau stammenden Mönch, beinhaltet der Plan die auch heute noch gebräuchliche Gliederung eines Klostergebäudes in Refektorium, Dormitorium, Nebengebäude, Klostergärten, Werkstätten und Klosterkirche. In Messkirch/D versucht man derzeit, das Original mit Methoden aus dem 9. Jahrhundert nachzubauen, lebensnaher ist freilich die tatsächliche, lebendige Tradition in modernen benediktinischen Klöstern, die zwar architektonisch nicht ganz dem Idealplan entsprechen, dafür aber die Idee dahinter durch das alltägliche Leben zum Ausdruck bringen.

Forschung im Stiftsarchiv und massgeschneiderte Schuber für wertvolle Bücher

Für angehende Studenten möglicherweise ebenso interessant: Die wertvollen Handschriften des St. Galler Archivs sind nicht nur online einsehbar, sondern können unter Angabe der wissenschaftlichen Absicht meist auch im Original eingesehen werden. Der stellverstretende Stiftsbibliothekar Dr. Philipp Lenz ist derzeit selbst mit einer in einem auffallend kleinen Buchdeckel eingefassten Foliant beschäftigt: Ein mit altenglischen und althochdeutschen Wörtern versetzter Text mit einer «insular beeinflussten Schriftart» und einem erst im 18. Jahrhundert ergänzten in Messing gefassten Buchdeckel. Über den Inhalt könne er noch nicht viel sagen, es sei eben noch ein Forschungsprojekt. Hin und wieder ist die Arbeit eines Stiftsbibliothekars aber auch eine ganz praktische. So wurden etwa zur Schonung der wertvollen Bücher nicht nur Kissen besorgt, auf die die Bücher bei Besichtigungen umsichtig gelegt werden können, nein, es wurden auch für jedes Buch massgeschneiderte Schuber angeschafft, die am Boden mit einem Pölsterchen versehen sind, damit die wertvollen Buchrücken nicht Schaden nehmen. So können die Bücher heute auch senkrecht gelagert werden, während sie früher zur Vermeidung der Abnutzung der Buchkanten nur «gelegt» wurden.

Für die Stiftsschüler ging es nach intensiven Vorträgen, detailreichen Ausführungen und so mancher Wegstrecke durch die zahlreichen Räumlichkeiten des Klosterbezirks schliesslich wieder per Zug nach Hause. Morgen werden sie in der Schule wieder als Stiftsschüler selbst der benektinischen Tradition nachfolgen.

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