Klaus-Cäsar Zehrer: Das Genie

Eine Buchkritik von Benedikt Aegerter

Romane über real existierende Personen, besonders wenn es dann noch Genies sind, sind meistens eine schwierige Angelegenheit. Noch schwieriger, wenn ihre Lebensgeschichte tragisch ist.

Klaus-Cäsar Zehrer umschifft die Tücken des Genres gekonnt und führt mit viel Sprachwitz und Ironie in die Welt einer ebenso genialen wie schwierigen Persönlichkeit: William James Sidis; ein Wunderkind, das bereits im zarten Alter von 2 Jahren lesen kann, mit 8 eine neue Sprache erfindet und mit 11 über die 4. Dimension doziert; ein Mensch der die Fallstricken der höheren Mathematik besser beherrscht als die seiner Schuhe; ein radikal der Welt Absagender, der lieber für 23 Dollar die Woche in einem Keller Zahlen zusammenzurechnet als sich in irgendeiner Weise an der Gesellschaft zu beteiligen, vor allem an dem von ihm verachteten Krieg.

Am Beginn steht allerdings die Lebensgeschichte seines Vaters, Boris Sidis, brillant und idealistisch wie sein Sohn. 1886 landet er völlig mittellos in New York und verdingst sich zuerst als Fabrikarbeiter, bis er sich durch seine mühsam erarbeiteten Englischkenntnisse als Privatlehrer für Einwanderer in Boston selbstständig macht. Dort lernt er auch Williams Mutter kennen, Sara. Er heiratet sie, unfähig etwas anderes als seine Ideale zu lieben, weil ihm ihr Fleiss beim Lernen als solide Grundlage für eine Ehe vorkommt. Durch einen Varieté-Darsteller von der Macht der Hypnose überzeugt, beginnt er schliesslich in Harvard Psychologie zu studieren und erwirbt in kürzester Zeit drei Doktortitel. Später leitet er ein Institut und ein Sanatorium, bis er durch die Freudianer verdrängt wird, die er als Schmutzfinken ansieht. Als sein Lebenswerk sieht er jedoch die sogenannte „Sidis-Methode“, von der er behauptet, dass man mit ihr jedes Kind zum Genie machen könne. Sein lebender Beweis wird sein Sohn William sein, der verzweifelt versucht, den von seinem Vater gelenkten Lebenslauf zu durchbrechen.

Darauf basiert letztendlich der Roman: auf dem Gegensatz von zwei genialen Menschen, die jede auf ihre Art Erfüllung suchen. Boris will die Welt durch Bildung verbessern, denn Dummheit sieht er als Ursache für alle Übel der Welt, einschliesslich des Krieges, den er als schlimmstes Übel ansieht. Anders William: Er genügt sich selbst; will die Gesellschaft bekämpfen, indem er es anders macht als alle anderen: Er verzichtet auf mehr Geld und mehr Ruhm und will sich nicht hochkämpfen. Solange seine 154 Lebensregeln, die er als 16 Jähriger aufstellt, nicht verletzt werden, ist er zufrieden.

Hier zeigt sich eine andere Stärke des Romans: Zehrer gelingt es durch den Gegensatz von Williams idealistischer Welt und der völlig anders gearteten Aussenwelt ein grandioses Sittenporträt des frühen Amerika, das an die grossen Romane Dreisers erinnert.

Letztendlich führt der Roman aber auch in eine andere Richtung, denn wie William in einer aufschlussreichen Szene sagt, ist er nur ein Produkt, ein Geschöpf seines Vaters, ein Projekt oder wie Boris einmal sagt „der Zukunftsmensch“. Das erinnert an einen anderen englischsprachigen Autor bzw. eine Autorin: Mary Wollstonecraft Shelley. Frankenstein anno 2017. Erstaunlich, dass das Buch keine grössere Diskussion ausgelöst hat.

Benedikt Aegerter (3c)

 

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