Auf der Suche nach sich selbst

Edouard Louis neuer Roman „Anleitung ein anderer zu werden“

Man würde ihn am liebsten trösten, ihm sagen, er solle sich nicht so einen Druck machen, ein „anderer zu werden“, sich nicht so vom Blendwerk bürgerlicher Regeln beeindrucken lassen, das vielleicht in einem bestimmten Milieu gilt, aber keinerlei Allgemeingültigkeit beanspruchen kann,  an sich selbst glauben, an seine grundsätzliche menschliche Würde und seine vielen Talente, doch der junge Protagonist in Edouard Louis` neuem Roman treibt sich ständig vorwärts, peitscht sich an, erlebt Erfolge und Niederlagen und blickt stets überkritisch auf sich selbst. Ein komplexer Charakter könnte man sagen, aber vielmehr ein komplexer Mensch, schreibt Edouard Louis doch über niemand anderen als über sich selbst.

Der heute 30-jährige französische Autor hat sein eigenes Leben zum Gegenstand seines Schreibens gemacht. Gemeinsam mit dem Soziologen Didier Eribon und der diesjährigen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux begründete er einen autobiographischen, selbstreflexiven Schreibstil, mit dem er um nichts anderes ringt, als eine kohärente Geschichte seines Lebens zu schreiben. Warum ihm das so schwer fällt, hängt wohl auch tatsächlich mit der Umgebung seiner Kindheit zusammen, einem nordfranzösischen Dorf, in dem er ein sensibler Aussenseiter ist, in einer Familie, in der traditionelle Männerbilder ihn verunsichern, einem Umfeld also, in dem er seine Persönlichkeit nicht ungehindert entwickeln kann, sondern stets im Aussen bleiben muss, in der Selbstbeobachtung, statt im selbstverständlichen Entdecken und Wertschätzen seiner verschiedenen Persönlichkeitszüge.

Im neuen Roman schildert er nun eindrücklich die Geschichte seiner Jugend, die Begegnung mit Elena, die er liebt, aber nicht begehrt, mit Didier Eribon, der in einem Vortrag auch seine Geschichte erzählt und der zu einem väterlichen Freund und Förderer wird, seine Begegnungen mit warmherzigen Frauen in Bibliotheken und Theatern, die bereits erkannten, dass er es sicher schaffen würde. Als Leser/In fiebert man mit, freut sich an seinen Erfolgen, etwa der Veröffentlichung seines ersten Buches als gerade mal 22jähriger, mit dem er über Frankreich hinaus bekannt wird, man nimmt Anteil an seinen berührenden Freundschaften mit Didier Eribon und Geoffroy Lasgasnerie, man schluckt aber auch angesichts seiner Enttäuschungen, seiner tiefsitzenden Existenzängste, seiner überstürzten Handlungen, die ihn manchmal an den Rand des Abgrunds bringen. Louis wirft sich regelrecht ins Leben hinein, exponiert sich und tut meist auch gut daran. Dass er sich am Ende aber auch nichts mehr als Ruhe wünscht, ein Ankommen, vielleicht sogar eine Rückkehr in die vertraute Welt seiner Kindheit, ist ebenso gut nachvollziehbar. Am Ende könnte seine Anleitung, ein „anderer zu werden“, also letztlich auch eine Anleitung sein, er/man selbst zu sein. Sein literarisches Schaffen weiter mitzuverfolgen, könnte spannend werden.

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