Das MEGA-Interview

… über alte Sprachen

von Raya und Lilly

Wir haben die Lehrer der alten Sprachen interviewt und sie danach gefragt, welche Bedeutung die alten Sprachen auch für heute haben und wie sie zu ihren Fächern gekommen sind.

Sieben Latein- und Griechischlehrer vermitteln an der Stiftsschule Denken, Kultur und Sprache(n) der Antike – “eine Denkschule” auch für heute.

Wieso haben Sie eine tote Sprache gelernt?

P. Mauritius:

Ich habe nicht eine tote Sprache gelernt, sondern mehrere. Meine erste tote Sprache war Latein. Damit habe ich begonnen, als ich mit 13 Jahren an die Stiftsschule kam. Warum ich das tat, wusste ich nicht. Es war einfach auf dem Stundenplan. Ich konnte mir gar nicht richtig vorstellen, was man im Lateinunterricht überhaupt macht. Ich dachte, vielleicht lernen wir einfach ein paar lateinische Fachausdrücke, die man später evtl. im Medizinstudium braucht, oder um die lateinischen Gesänge in der Messe zu verstehen. Ich hatte keine Ahnung, dass es heute noch lateinische Texte gibt, ja ganze Bücher und Bibliotheken. Das konnte ich mir alles gar nicht vorstellen und meine Eltern wussten es auch nicht, weil niemand in meiner Familie jemals Latein gelernt hatte. Aber Latein hat mir sehr gefallen und wurde neben Mathematik mein Lieblingsfach. Und als es dann um die Wahl des Schwerpunktfaches ging, wollte ich unbedingt Griechisch machen, weil ich mehr darüber erfahren wollte und weil die Alternativen damals nur Englisch und Italienisch waren und ich mündliche Fremdsprachen nicht gerne hatte.

Als ich dann nach der Matura als Soldat arbeitete, hatte ich oft Nachtschichten, in denen es ziemlich langweilig war. Und um trotzdem etwas Sinnvolles aus dieser Zeit zu machen, habe ich begonnen, die dritte tote Sprache zu lernen: Hebräisch. Auch das gefiel mir.

Später habe ich im Rahmen meiner Ausbildung in Bibelwissenschaften auch noch Aramäisch, Koptisch und Syrisch gelernt. Wenn man bei einer schwierigen Stelle in der Bibel nicht mehr weiter weiss, kann man leider den Schreiber nicht mehr fragen, denn er ist schon seit 2000 Jahren tot. Aber man kann nachschauen, wie Menschen, die früher lebten, diese Stelle verstanden und in ihre Muttersprache übersetzt haben. Und vielleicht hilft das, um die schwierige Stelle zu verstehen.

Jürg Rohner:

Das habe ich gar nicht. Ich habe eine unsterbliche Sprache gelernt. Sie lebt weiter in so vielen modernen Sprachen; nicht nur in den romanischen Sprachen wie Italienisch, Französisch, Spanisch etc., sondern beispielsweise auch im Englischen, dessen Wortschatz zu 60% auf lateinische Ursprünge zurückgeführt werden kann. Latein ist aber auch anderswo lebendig, man denke unter anderem an die Kirche, die Jurisprudenz oder die Wissenschaft im Allgemeinen. – Ich war schon immer fasziniert von der Antike und ihrer Kultur, von der die unsere entscheidend geprägt ist. Zudem bin ich ein sehr analytisch denkender Mensch und liebe Sprachen. Da ist Latein die ideale Kombination!

Ich habe eine unsterbliche Sprache gelernt.

Jürg Rohner

Francesco De Vecchi:

Wer vom Tod von Sprachen spricht, kann nicht begreifen, was der Stellenwert des Lateinischen ist. Sprachen sterben nicht einfach, obwohl man das manchmal hören kann. Aber dann wären sie ja tot und vorbei und vergessen. Sind sie das? Warum lernen wir Latein? Warum Französisch und Italienisch und die übrigen romanischen Sprachen, die ja späte lateinische Dialekte darstellen? Latein ist nicht tot, sondern vielmehr, wie Herr Rohner trefflich ausdrückt, unsterblich.

Ich habe Latein am Gymnasium gelernt und Griechisch an der Universität, weil mich das Gedankengut und die Literatur der Griechen interessiert hat, und seither lässt es mich nimmer los. Die Griechen sind eine Wucht! Ich werde nicht satt an ihnen, sie sind nicht erledigt, beispielsweise Homer. Da geht es mir mit anderer Literatur ganz anders.

Tobias Ebneter:

Na ja, streng genommen ist Latein keine tote, sondern eine nicht-gesprochene Sprache. Tote Sprachen sind Sprachen, von denen es keine Überreste gibt. Dies kann man ja vom Latein nun wirklich nicht behaupten, füllen die Restbestände über fast zwei Jahrtausende doch ziemlich grosse Bibliotheken. Zur Frage: Mir war klar, dass ich Geschichte studieren und wohl mal in Richtung Lehramt gehen will. Da wollte ich als zweites Fach nicht etwas haben, was alle haben. Und natürlich hatte ich ein Faible für Latein. Mir machte das «knobelartige» Spass, logische Zeichen (d.h. Interpretation von Endungen etc.) logisch zu einem sinnvollen Ganzen zu kombinieren. Und dies in einer Art Wettkampf «Ich gegen Caesar».

Tote Sprachen sind Sprachen, von denen es keine Überreste gibt. Dies kann man ja von Latein nun wirklich nicht behaupten, füllen die Restbestände über fast zwei Jahrtausende doch ziemlich grosse Bibliotheken.

Tobias Ebneter

P. Thomas:

Halt! Ist Latein wirklich tot? Klar, niemand lernt mehr diese Sprache von klein auf als Muttersprache. Aber es gibt viele Dinge, die über diese Sprache laufen, vor allem in der Kirche: Wichtige Verlautbarungen des Papstes beispielsweise werden in diese Sprache geschrieben. Und auch wir Mönche beten jeden Tag quicklebendig in Latein. 

Oliver Verlage:

Ich denke, weil ich Latein schon in der Schule gut konnte. Für mich waren Übersetzungen immer wie kleine Rätsel oder Knobelaufgaben. Darüber hinaus hat es mich fasziniert, über die lateinische Sprache eine mir bis dahin vollkommen fremde Welt kennenzulernen.

Was unterscheidet ihre Sprache von den anderen toten Sprache?

P. Mauritius:

Ich weiss nicht genau, was ich dazu sagen kann. Jede Sprache ist auf ihre Weise einzigartig und faszinierend.

Jürg Rohner:

Wie bereits gesagt: Die Sprache Latein ist nicht tot, sondern unsterblich. (Siehe Frage 1)

Ebenso ist auch das Griechische lebendig. Seine Bedeutung ist kann gut mit derjenigen des Lateinischen verglichen werden. Was das Griechische allerdings nicht vorzuweisen hat, ist die grosse Anzahl an Tochtersprachen des Lateinischen (Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch, Rätoromanisch …). Was die Sprachschönheit anbetrifft, scheiden sich die Geister.

Francesco De Vecchi:

Griechisch ist halt eine andere Sprache als Latein, mit anderer Schrift. Mich interessieren weniger die Unterschiede, immer mehr interessieren mich die Gemeinsamkeiten, auf grammatischer, stilitischer und inhaltlicher Ebene. Und mich interessieren die Prozesse, die nötig sind, eine Aussage von einer Sprache in eine andere zu überführen.

Tobias Ebneter:

Ich muss beichten: ich bin nur ein halber Altphilologe. Ich spreche kein Griechisch. ☹ Ich kann deshalb nicht kompetent Auskunft geben. Aber der Vorteil des Latein ist sicher, dass wir uns die lateinische Schrift gewohnt sind und es deshalb keine Hürde beim Lesen und Schreiben gibt.

P. Thomas:

Sie weist eine sehr grosse Ähnlichkeit zu jenen (Fremd-)Sprachen auf, die wir bereits kennen, also die modernen romanischen Sprachen; das ist bei anderen alten Sprachen weniger der Fall. Latein ist uns deshalb wohl am nächsten.

Oliver Verlage:

Ausser dem Lateinischen kenne ich nur das Griechische gut genug, um dazu etwas sagen zu können: Ich habe immer gefunden, dass das Griechische modernen Sprachen irgendwie näher ist als das Lateinische. Am Lateinischen hat mich wohl gerade fasziniert, dass es ein wenig sperrig wirkt, wenn man es neu kennenlernt. Irgendwie so gar nicht, wie man es aus den modernen Sprachen kennt. Auch wenn das bei näherem Hinsehen z.T. täuscht.

Was ist das Ziel davon, eine alte Sprache zu lernen?

P. Mauritius:

Das Ziel ist, das Denken, die Kultur, die Geschichte von damals besser zu verstehen. Unsere europäische Zivilisation hat eine ca. 3000-jährige Geschichte. Das sind unsere Wurzeln. Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen. Niemand kann ohne Wurzeln leben. Die alten Sprachen helfen uns, mit unseren Wurzeln in Verbindung zu bleiben. Und darüber hinaus macht es auch einfach Spass.

Niemand kann ohne Wurzeln leben.

P. Mauritius

Jürg Rohner:

Es ist der Sprachkompetenz ungemein zuträglich, Latein oder Griechisch zu lernen. (Im Lateinunterricht lerne man erst so richtig Deutsch, höre ich immer wieder). Es geht darum, seine sprachliche Formulierfähigkeit zu verbessern, Sprachfinessen gezielt wahrzunehmen, Sprachstrukturen zu erkennen etc., kurz: im Umgang mit der Sprache trainiert man seine Denk- und Analysefähigkeit. Ebenso wichtig ist das kulturelle Verständnis, welches der Lateinunterricht fördert. Etwas plakativ gesagt: die Wiege unserer Kultur liegt in Athen und Rom. Um zu verstehen, wer wir sind und wohin wir gehen (wollen), müssen wir wissen, woher wir kommen. Zukunft braucht Herkunft!

Francesco De Vecchi:

Die klassischen Sprachen lernen wir für das, was ich einen Menschwerdungsprozess nennen würde. Menschheit ist für mich nicht ein biologisches Konzept, sondern verstehe ich als kulturelles Geschehen. Ein sich-Einreihen in die Kultur, die ja letztlich aus der Antike stammt.

“Zukunft braucht Herkunft”

Jürg Rohner

Tobias Ebneter:

Wir arbeiten mit Texten ja nicht alleine des Übersetzens wegen. Die Texte haben ja auch Inhalte und die haben uns häufig auch im Jahr 2023 noch was zu sagen. Entweder in ihrer Parallelität zu unserer Gegenwart oder eben gerade in der Unterschiedlichkeit.

Aber auch das Übersetzen hat einen Wert. So hat eine Untersuchung der ETH ergeben, dass Studierende der Alten Sprachen mit zu den Erfolgreichsten am Schluss das Basisjahres gehören. Die Erklärung des ETH Rektors dafür, weshalb die anderen häufig schlechter abschnitten, lautete: «Diese Maturanden können sich sprachlich zu wenig präzise ausdrücken. Das ist entscheidend, weil in den Naturwissenschaften – sicher viel stärker als in der Literatur – jedes Wort eine genaue Bedeutung hat. Dieses Textverständnis lernt man im Gymnasium in der Mathematik und in den ‘Alten Sprachen’.»

Und dann gibt es noch eine tieferliegende Ebene, die über das konkrete Sprache lernen hinausgeht. Ein Cousin von mir, der jetzt Arzt ist und kein guter Lateinschüler war, hat mir das für sich mal so erklärt: Ihm habe primär Latein als Denkschule etwas gebracht. Er habe gelernt, wie man ein Problem Schritt für Schritt angehe und keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehe. Ein lateinischer Satz sei wie eine Krankheit, die ein Patient von ihm habe: Die einzelnen Symptome müssten zusammengesetzt werden, damit ihm der Sinn des Ganzen klar werde. Erst dann könne er den Patienten behandeln.

P. Thomas:

Eine Sprache lernen heisst immer auch, in das Denken und Fühlen von fremden Menschen hineinzuschauen. In den höheren Klassen übersetzen wir nicht nur echte Texte, sondern diskutieren auch deren Inhalt, etwa in Philosophie. Da eröffnet sich uns eine spannende Welt.

Oliver Verlage:

Weder im Deutsch-Unterricht, noch in irgendeinem anderen Sprachfach geht es heute darum zu verstehen, wie Sprache eigentlich funktioniert, dass Grammatik und Logik eng miteinander verbunden sind und das eine das andere voraussetzt. Es erschreckt mich oft, wie wenig Schülerinnen und Schüler heute über Sprache wissen und wie schlecht sie z.T. ihre Erstsprache beherrschen. Dies ist wohl eines der Verdienste des Lateinunterrichtes, dass er solche Fragen noch stellt. Darüber hinaus fördert der Lateinunterricht das genaue Lesen, man nennt es auch mikroskopisches Lesen. Auch dies ist eine Fähigkeit, die im Grunde nur das Lateinische trainiert. Zuletzt verweise ich noch auf die Grundlagen der europäischen Kultur, die über das Lateinische erschlossen werden können. Sicher gäbe es noch mehr zu sagen, doch ich möchte es dabei belassen und möchte nur noch sagen, dass die genannten Verdienste natürlich in gleicher Weise dem Griechisch-Unterricht zugeschrieben werden können.

Was ist ihr Lieblingsort in der Antike?

P. Mauritius:

Im vergangenen Oktober war ich mit einer Gruppe von der Stiftsschule in Trier. Das war eine hochinteressante Exkursion. Trier, lateinisch Augusta Treverorum, war ja einmal die Residenz der römischen Kaiser. Was man da alles ausgegraben hat und nun besichtigen kann – unglaublich. Das war mein erster, aber sicher nicht mein letzter Besuch in Trier.

Jürg Rohner:

Natürlich bietet Italien enorm viel für den Lateiner, darunter speziell Rom oder die Region um Neapel. Als meinen Lieblingsort würde ich aber dennoch Delphi bezeichnen. Jener Ort mit seinem legendenumrankten Orakel fasziniert und berührt mich besonders.

Francesco De Vecchi:

Das ist eine sehr schöne Frage. Orte und Zeiten sind miteinander verknüpft. Ich hätte grosse Lust, eine Chordarbietung zu besuchen, vielleicht am Rande eines Staatsfestes in Sparta, oder aber den Chor der Phaiaken, der so prächtig tanzte zu Phemios Lied, wie Aphrodite mit Ares fremd geht und das ganze aufgedeckt wird vom gekränkten Hephaistos. Einen Chor, ja, das möchte ich gerne sehn!

Ich hätte grosse Lust, eine Chordarbietung zu besuchen, vielleicht am Rande eines Staatsfestes in Sparta.

Francesco De Vecchi

Tobias Ebneter:

Da ich nie in der Antike gelebt habe, ist das schwer zu sagen. Aber mir gefällt das Pantheon in Rom.

P. Thomas:

Ganz klar Rom, aber wohl auch deshalb, weil dort nicht nur Antike zu sehen ist, sondern eine Kontinuität von Bauten über alle Jahrhunderte hinweg bis heute.

Oliver Verlage:

Diese Frage verstehe ich nicht: Ist gemeint, welches meine liebste antike Kultur ist?

Welchen Gott finden Sie am eindrücklichsten? Warum?

P. Mauritius:

Als Christ und Mönch bin ich überzeugt: Es gibt nur einen wahren Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Und was kann es Eindrücklicheres geben als diese Menschwerdung Gottes? Und dass wir heute von diesem Gott überhaupt etwas wissen, verdanken wir übrigens den alten Sprachen!

Jürg Rohner:

Hermes. Er hat so viele verschiedene Facetten: Er schützt die Reisenden, die Kaufleute, die Hirten, aber auch die Diebe. Er steht für die Rhetorik, die Gymnastik, die Magie und führt die Toten in die Unterwelt. Wie wir Menschen ist er nicht zu durchschauen und verzaubert gerade deshalb besonders.

Francesco De Vecchi:

Mir gefällt am besten der kleine Hermes aus dem homerischen Hymnus: Er ist so lieb gestaltet, ein Schlingel, ein Schlitzohr, ein Betrüger, Lügner, den alle sofort durchschauen, weil er es so offensichtlich macht und so liebenswert. Oft wenn mir Schüler offensichtlich einen Bären aufbinden, erinnert es mich an den kleinen Hermes und daran, dass man ihn auch gewähren lassen muss. Seine Mutter merkt ja, dass er sich fortgestohlen hat, und wenn sie kommt, dreht er sich scheinbar verschlafen in seiner Schwinge, da kann sie ihm nicht böse sein. So bevölkert die Literatur der Griechen meine Gedankenwelt.

Mir gefällt am besten der kleine Hermes aus dem homerischen Hymnus: Er ist so lieb gestaltet, ein Schlingel, ein Schlitzohr.

Francesco De Vecchi

Tobias Ebneter:

Jetzt muss ich mal eine Lanze brechen für Hephaistos. Der ist voll der arme Kerl: die Mutter schmeisst ihn nach der Geburt vom Olymp, weil sie ihn nicht hübsch findet, seine Frau Aphrodite betrügt ihn dauernd mit Ares und als Dank darf er noch den ganzen Tag in der heissen Schmiede schuften.

P. Thomas:

Mir ist Ceres ganz sympathisch, weil sie als Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit gilt; ihr vertrauten die Menschen also den Boden an, ihre Arbeit darauf und ihre Existenz, indem man davon ausging, dass sie die Nahrung schenkt.

Oliver Verlage:

Göttinnen und Götter beeindrucken mich nicht. Spannender finde ich Gestalten wie Medea oder andere, von denen die antiken Mythen erzählen. Wenn ich von den Geschichten ausgehe, die sich um die Gottheiten ranken, so gefällt mir vor allem eine Geschichte, in welcher die Göttin Leto/Latona zusammen mit ihren beiden kleinen Kindern Artemis/Diana und Apollo . . . und am Ende quaken die Frösche im Teich. Worum es in der Geschichte geht, kann ich hier natürlich nicht verraten 😉

Vielen Dank!

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