Nicht alles ist Windhauch – Wir lesen Kohelet

Wenn vier Lehrer sich einmal pro Woche in der Mittagspause treffen, um gemeinsam in der Bibel zu lesen, ist das vor allem eins: Der Versuch, diesem grossen und doch auf den ersten Blick sperrigen Werk auf die Spur zu kommen, sich gewissermassen heranzuwagen an diese alten und komplexen Texte. Wir lesen Kohelet, ein nur 15 Seiten umfassendes Buch des insgesamt 1000 Seiten umfassenden Alten Testaments.

Ausgerüstet mit vier verschiedenen Bibelübersetzungen und zwei Kommentaren treffen wir uns im O27, die Einzeltische zusammengeschoben, Notizblätter und Stifte parat und fangen einfach an. Einheitsübersetzung S. 716: „Worte Kohelets, des Davidssohns, der König in Jerusalem war.“ Was würde uns in diesem Buch erwarten, von dem wir bisher nicht mehr als einzelne Zitate kennen und von dem wir wissen, dass es wohl eher zu den philosophischeren, also „weisheitlichen“ Büchern des Alten Testaments gehört?

Schon klärt uns der Kommentar auf, dass Kohelet wohl keine historische Figur war, sondern vielmehr der Name für eine fiktive Erzählerfigur ist: „Kohelet“ griechisch, „Ecclesiastes“ lateinisch, „Der Versammler“, der, der also eine Gruppe von Interessierten um sich schart und über das Leben nachdenkt. Es ist ein weisheitliches Buch, also eines aus dem Komplex jener Bücher des AT, zu denen auch das Hohelied und  Hiob gehört und das sich ganz grundsätzliche Fragen zu einem „guten Leben“ stellt. Hauptfigur selbst ist eben jener Kohelet, der mit dem Leben ringt, immer wieder die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und sagt: „Es ist alles Windhauch“, es ist also alles nichtig und vergänglich. Doch ist das Ausdruck einer einzigen Resignation, ein nihilistisches „Es ist eh alles umsonst“?

Francesco De Vecchi, Latein- und Griechischlehrer, findet diese Dimension des Textes zunächst nachvollziehbar und aktuell. Er schätzt die „Zugänglichkeit und Alltäglichkeit“ des Textes. Warum mühen wir uns ab? Lohnt sich das und wie entwickle ich mich weiter? Das sind Fragen, die man sich auch heute zum Beispiel im Berufs- oder Studienalltag stellen kann. Dazu gehört auch beispielsweise die Frage, wie man mit Geld umgeht. Sollte man darauf verzichten oder ist es Eitelkeit gerade jenes zu tun?

Mit in der Runde ist auch P. Mauritius, Mönch des Klosters Einsiedeln und ebenfalls Latein- und Griechischlehrer. Er liest Kohelet nicht nur aus „beruflichen“ Gründen – in den biblischen Lesungen kommt das Buch Kohelet selten vor – er findet es wichtig, die Bibel auch einfach einmal „zweckfrei“ zu lesen. „Das Wort Gottes ist inspirierte Schrift“, aus der man idealerweise auch etwas für das eigene Leben mitnehmen kann. Besonders schön findet er das Gedicht über die Zeit. Es ist eine Auflistung, was alles zum Leben gehört. „An sich ist eine Auflistung eine simple Sache, letztlich ist es hier aber sehr kunstvoll gemacht“, zeigt er sich von Kohelet 3,1-8 angetan. Gerade die Auflistung macht aus den einzelnen Lebenserfahrungen etwas grösseres „Ganzes“. Durch das Alter des Textes, das Buch stammt wohl aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. und ist somit zwar ein junges Buch des AT, aber doch ein „altes“ für uns, zeigt sich, dass unsere Lebenserfahrung in eine historische Erfahrung eingebettet werden kann. Die Geschichte, dass Kohelet sich schon vor 2300 Jahren, die gleichen Fragen gestellt hat wie wir heute, ermöglicht uns geradezu eine Verwurzelung in eine lange Geschichte. Die biblischen Erfahrungen sind unsere Wurzeln, in die wir als Individuum eingebettet sind. Die zentrale Frage dabei: „Was machen wir am besten mit der Zeit, die uns geschenkt ist?“, so P. Mauritius.

Aus der reformierten Tradition kommend geht Frau Graf, Biologie- und MINT-Lehrerin, mit der Zwingli-Bibel ans Werk heran, mit zum Teil doch recht grossen Unterschieden im Text. Sie schätzt am Buch Kohelet vor allem die Gelassenheit, die der Text vermittelt. „Was geschah, wird wieder geschehen“ (Koh 1,9), zitiert sie inzwischen frei. Kohelet vermittelt vor allem den Auftrag, sich nicht ständig bemühen und anstrengen zu müssen oder aus Angst und hohen moralischen Ansprüchen handeln zu müssen, sondern zeigt, dass das eigene Handeln und die eigene Persönlichkeit grundsätzlich in Ordnung ist: „Es ist ok“, könnte man sagen. „Das gehört zum Leben, man muss nicht alles perfekt machen“.

Hier ist sich die Gruppe einig: Kohelet kommt nicht wie ein mahnender Prophet daher, er hält keine Moralpredigt, die in der Aufforderung nach der Umkehr mündet oder danach fragt, welches Gebot denn am wichtigsten sei. Es ist eben keines der zehn Geboten, wie es später heissen wird, sondern eine Grundhaltung Gott (und der Welt) gegenüber, nämlich Gott zu ehren und sein Leben danach auszurichten und alles im Leben anzunehmen. Martina Graf empfindet Kohelet deshalb als Lobeshymne an das Leben selbst, mit all seinen Facetten, einschliesslich der vordergründig negativen, wie etwa dem Schmerz, der aber genauso eine sinnvoller Erfahrung sein kann. „Es ist ein Evangelium“, eine frohe Botschaft über das Leben, eine tiefe Lebensweisheit, das „Gegenteil von Hadern“.

Bisher sind wir bei Kohelet 6 angelangt. Wir haben schon gehört, dass es immer wieder Ausbeutung gibt und Gerechtigkeit nicht immer gewährleistet ist (Koh5,7-9), dass sich politische Systeme immer wieder abwechseln und ein König auf den nächsten folgen wird (Koh 4,13-16) und dass sich religiöses Leben nicht darin erschöpft, ein Gelübde abzulegen (Koh 5,3-6), wortreich zu beten oder Opfergaben abzuliefern (Koh 5). Auch macht es weder Sinn, Reichtum anzuhäufen und sich dann nicht einmal daran zu freuen oder etwas daraus zu machen, Wissen anzuhäufen (denn: „Viel Wissen,viel Ärger“) oder allein zu leben: „Zwei sind besser als einer allein (…). Denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf.“ (Koh 4,7).

Unterbrochen werden all diese verschiedenen grundmenschlichen Versuche nach einem gelungen Leben in unserer bisherigen Lektüre von zwei Gebetseinschüben, die auf einer Metaebene auf dieses Ringen des Menschen schauen: Der Kosmospsalm am Anfang, der die einzelne menschlichen Erfahrung in den weiten Horizont eines tragfähigen Kosmos einbettet, und das Zeitgedicht, das durch die detailreiche Aufzählung, ein Kontinuum menschlicher Erfahrungen herstellt: Wir sind nicht die ersten, die dieses und jenes erleben müssen – „Alles hat (eben) seine Stunde“ und für „jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit“.

Noch ist offen, ob Kohelet letztlich konkretere Antworten finden wird oder ob Gott vielleicht selbst eingreift und ihm den Weg zeigt? Ein gewaltiger Blitz vom Himmel, eine Gotteserscheinung (Theophanie) in Form eines Erdbebens, die alle wachrüttelt, alles neu macht, sodass allen alles klar wird? Bis Kohelet 12 werden wir noch dranbleiben müssen.

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